Meer Utopie wagen

Was man heute noch von Piraten lernen kann - auch Piraten

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

»Ich habe keine Lust mehr mich für das Gebaren von piraten zu rechtfertigen. Das ist nicht mehr zum aushalten.« So knapp begründete der Berliner Abgeordnete Martin Delius via Twitter seinen Austritt aus der Piratenpartei. Delius hatte sich vor allem als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zum BER profiliert - ein zum Symbol des Versagens gewordener Flughafenbau.

Flughäfen sind wie die riesigen Containerterminals Manifestationen des globalen Kapitalismus. Eines seiner frühesten war das Segelschiff. Bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatten sich die grundlegenden Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft entwickelt: das kommerziell genutzte Landgut und das Manufaktursystem. Das Schiff verband die verschiedenen Sphären. Auf ihm führte eine große Anzahl von Arbeitern gegen Lohn zum Teil hochkomplexe Arbeiten aus - sie waren dabei einer versklavenden und strikt hierarchischen Disziplin unterworfen. Das Schiff als Vorläufer der Fabrik. Seeleute und Schiff trieben die Expansion der kapitalistischen Wirtschaftsordnung voran. Gleichzeitig war es auch der erste Ort, an dem Arbeitende aus verschiedenen Kontinenten miteinander kommunizierten - alle Widersprüche des imperialen Zeitalters in einem Schiffsrumpf. Und in ihm wuchsen Utopien und Widerstand - bedrohlich für die Obrigkeit durch das Piratenwesen des frühen 18. Jahrhunderts.

Massenwiderstand der Seeleute durch Meutereien entzündete sich meist an der schlechten Bezahlung und den ebenso schlechten Arbeitsbedingungen an Bord. Einige meuterten, übernahmen das Schiff und hissten die Flagge mit dem Totenkopf - und viele Seeleute der gekaperten Schiffe schlossen sich ihnen freiwillig an. Kein Wunder bei diesem Leben auf See. »Kein Mann, der die Findigkeit besitzt, sich ins Gefängnis stecken zu lassen, wird Seemann, denn ein Schiff ist nichts anderes als ein Gefängnis mit der zusätzlichen Gefahr des Ertrinkens … Im Gefängnis hat der Mensch mehr Platz, besseres Essen und gewöhnlich bessere Gesellschaft«, so ein gewisser Samuel Johnson. In Übereinkünften legten die Piraten fest, wie sie ihr Leben auf See anders führen wollten: Selbst Recht sprechen, ihre Kapitäne selber bestimmen, die Beute gerecht teilen - und setzten auf andere Formen der Disziplinierung als durch die Peitsche oder Schlimmeres. »Das Piratenschiff war demokratisch in einem undemokratischen Zeitalter«, fassen es Peter Linebaugh und Marcus Rediker in »Die vielköpfige Hydra« zusammen.

Piraten waren für die Obrigkeit also nicht nur eine ökonomische Bedrohung, indem sie beispielsweise den lukrativen Sklavenhandel auf See bedrohten - sie stellten auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Prinzipien der Gesellschaften infrage, aus denen sie sich freiwillig ausgeschlossen hatten: Kein Wunder, dass die Herrschenden brutal zurückschlugen, als sie erkannten, was sich dort auf den Weltmeeren und an Land als alternative Lebensform zu etablieren drohte - mit Krieg.

Der Blick auf das utopische Potenzial von Piraten bleibt heute oft verstellt: durch comichafte Überzeichnung (»Fluch der Karibik«), gnadenlose Vermarktung (FC St. Pauli) oder Selbstzerfleischungsprozesse (Piratenpartei). Letztere könnte im Moment wieder einen Schuss mehr Utopie vertragen - der jetzige Umgang bei ihr führt zwangsläufig ins Gefängnis mit der zusätzlichen Gefahr des Ertrinkens in der politischen Bedeutungslosigkeit.

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