Utopia, USA
Im New Yorker Stadtteil Queens sollte eigentlich der Kapitalismus enden. Doch daraus wurde erst einmal nichts. Heute ist das Viertel ein Wohnidyll für Betuchte - Max Böhnel hat es besucht
Utopia? Keine Ahnung». Im New Yorker Viertel Utopia ist von der ursprünglichen Idee nichts übrig geblieben. Selbst mit der Namensgebung ihres Wohnortes können Einheimische nichts anfangen. Im Café-Restaurant Muscat an der 178th Street weiß niemand, woher der Name des Viertels kommt. Uri Tasloff, der gerade an einem Cappuccino nippt, schüttelt den Kopf. «In den USA gibt es viele merkwürdige Ortsnamen», meint der Mittdreißiger. «In New York bleiben die alten Ortsnamen bestehen, aber die Bewohner wechseln dauernd.»
Er hat natürlich recht. Allein Queens, einer von fünf New Yorker Stadtteilen, beherbergt 2,3 Millionen Menschen. Utopia ist nur eines von 125 Vierteln in Queens. 138 Sprachen werden hier gesprochen. Und die Zeit rast. Im Zeitraffer betrachtet gibt es vermutlich weltweit keine andere Stadt mit einer so hohen Mobilität.
Vor 100 Jahren bestand die Gegend, die später den Namen Utopia erhielt, aus nichts anderem als Äckern, Wiesen und Feldern. Heute ist sie bei den oberen Mittelschichten ein begehrtes Viertel. Die Preise im Café Muscat sprechen für sich. Ein Cappuccino kostet 5,50 Dollar, Nudeln mit Artischocken 19,95 Dollar.
Neben konservativen und orthodoxen Juden leben heute in Utopia Chinesen, Koreaner, Russen, Inder und Latinos. Jede ethnische Gruppe hat ihre eigenen Restaurants, Gebetsstätten und Gemeindezentren. Die Schnittmenge, die die Einheimischen und die neu Dazugezogenen verbindet, ist dabei das Geld. Das enthüllt ein Blick auf Grundstückspreise. Wer sich ein Einfamilienhaus mit drei Schlafzimmern kaufen will, muss durchschnittlich 800 000 Dollar berappen, ein typisches «Middle Class»-Viertel der gehobenen Art also.
Die Straßen sind von Bäumen gesäumt. Ein Einfamilienhaus mit Garage und Vorgarten reiht sich an das andere. Auch die solide Ziegelstein-Bauweise lässt erahnen, dass es sich um die obere Mittelschicht handelt. In weniger betuchten Außenvierteln von New York herrschen alter Holzbau, billige Plastikverschalungen und hässliche Stromkabel vor. Nicht so in Utopia: ein parzelliertes Idyll für Familien mit gehobenen Einkommen.
Die Namensgeber hatten vor über 100 Jahren, als sie sich das Brachland kauften, das genaue Gegenteil im Sinn. Denn darauf wollten sie eine «cooperative community» bauen. Dazu gründeten Anfang des 20. Jahrhunderts jüdische Einwanderer, die vom baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Ausbeutersystems überzeugt waren, eine Initiative namens «Utopia Land Company». Für 9000 Dollar, die sie als Hypothek erhielten, kauften sie 20 Hektar Land irgendwo «östlich der 164th Street zwischen den Gemeinden Jamaica und Flushing». So heißt es übersetzt auf dem einzigen öffentlichen Hinweis am Utopia-Spielplatz, der an die Unternehmung erinnert.
Genaueres lässt sich im Stadtarchiv von Queens nicht finden. Da der Kauf 1905 erfolgte, handelte es sich jedenfalls um einen der ersten historischen Versuche von jüdischen Linken, die in die USA eingewandert waren und mit Zehntausenden anderen in Slums hausten, den verheerenden Verhältnissen zu entkommen. Schließlich, so lautete die feste Überzeugung der Sozialisten, Anarchisten und später Kommunisten, war die kommende soziale Umwälzung eine geschichtliche Notwendigkeit.
Utopia - das war ein Ort im Diesseits, den es zu erkämpfen galt. Erste Schritte wären die Errichtung von sauberen, hellen und geräumigen Wohnungen mithilfe von Genossenschaften, dazu Arbeitsplätze mit anständigen Löhnen sowie Geschäfte, Spielplätze und Grünflächen.
Doch aus der «cooperative community» in Queens wurde nichts. Schon vor den ersten Vermessungs- und Begradigungsarbeiten ging die «Utopia Land Company» pleite. Die Ackerflächen blieben in den nächsten Jahren unbebaut. Erst 1940 eignete sich die Grundstücks- und Baufirma Gross-Morton Park Corporation of Jamaica das Gelände an, bebaute es in den darauf folgenden Jahren und verkaufte die einzelnen Parzellen. Werbebroschüren von damals beschrieben sie als «Orte mit ausgemachtem Prestige, von zweifelsfreiem Charme und einzigartiger Annehmlichkeit». Im Boom der 50er Jahre war Utopia ein Wohnort für gehobene Mittelschichtsspießer geworden, eine Vorstadt in der Stadt auf genau 24 Straßenzügen. Neben einer hässlichen Stadtautobahn namens Utopia Parkway, die das Viertel im Westen begrenzt, erinnert nur noch der Utopia-Spielplatz an das ursprüngliche Vorhaben.
Die Idee, Utopia zu gründen, war in der Lower East Side von Manhattan entstanden. Denn dort hatten sich zwischen 1880 und 1910 Hunderttausende von jüdischen Einwanderern vor allem aus Osteuropa niedergelassen. Die Verhältnisse waren fürchterlich. Beschäftigung fanden ganze Familien inklusive der schuftenden Kinder in den «Sweatshops» (Schwitzbuden) der Bekleidungsindustrie. Laut Historikern waren die ersten modernen sozialen Aufstände in New York «jüdische Klassenkämpfe» - proletarisierte Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie, die sich gegen die Sweatshopbesitzer, fast immer deutsche Juden, auflehnten. Dazu kamen die Lebensbedingungen auf der Lower East Side in maßlos überfüllten Wohnungen, oft ohne Elektrizität und Wasser und unter unhygienischen Bedingungen.
Der Zustrom von billigen Arbeitskräften, der nicht abzureißen schien, drückte die Löhne. Zu den politischen Idealen Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus war es mit dem steigenden Klassenbewusstsein und infolge der Bildung von gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen nicht weit. Federführend war dabei die schnell wachsende Socialist Labor Party. Daneben machten sich auch die Anarchisten etwa mit Johann Most und Emma Goldman und ihrer in jiddischer Sprache erscheinenden Zeitung «Fraye Arbeter Shtime» bemerkbar.
Eine der wichtigsten Hilfsorganisationen jüdischer Sozialisten war der Workmen’s Circle, der seine Mitglieder mit Versicherungen ausstattete und einen Streikfonds bereitstellte. Als publizistisches Flagschiff und ideologischer Wegweiser diente die 1897 gegründete Zeitung «Jewish Daily Forward» (Forwerts), die ebenfalls in Jiddisch erschien. Sie hatte mehr Leser als jede andere sozialistische Publikation in den USA.
Die Idee, mit Hilfe von Wohnungsgenossenschaften dem Elend der überfüllten New Yorker Einwandererviertel zu entgehen, bekam innerhalb der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung Hand und Fuß. Zwar war das frühe Projekt «Utopia Land Company» von 1905 gescheitert, doch lebte der Traum weiter. Wenige Jahre darauf gelang Tausenden von jüdischen Arbeitern in der Textilindustrie tatsächlich der Sprung in ein besseres Leben. Im Stadtteil Bronx entstand die United Workers Cooperative Colony, die «the Coops» genannt wurden, für mehr als 2000 Lohnabhängige.
Die New Yorker Polizei und das Establishment nannten die Genossenschaft «Little Moscow». Denn es war kein Geheimnis, dass sich dort Anhänger und Mitglieder der Kommunistischen Partei zusammengetan hatten. Ihre «Coops» boten nicht nur geräumige Wohnungen, sondern waren auch Orte für gemeinsame Unternehmungen. Die «community» richtete sich sogar eine Bibliothek mit 20 000 Büchern in Jiddisch, Russisch und Englisch ein. Nicht zuletzt wandten sich die Verantwortlichen der «Coops» an Afroamerikaner, sich ihnen anzuschließen. Im Dokumentarfilm «At Home in Utopia» von 2008, der ehemalige Bewohner zu Wort kommen lässt, ist sogar die Rede von Schwarzen und Weißen, die damals Beziehungen eingingen und Ehen schlossen - und das in der Zeit der gesetzlichen Rassentrennung.
Aber die «Coops» waren nicht die einzigen linken Wohnungsprojekte. Mindestens drei weitere große Kommunen entstanden damals in der Bronx: die Amalgamated Houses der Textilarbeitergewerkschaft, die Sholem Aleichem Houses des unabhängigen Workmen’s Circle und die Farband Houses der Linkszionisten, die jüdischen Nationalismus und sozialistische Ideen unter einen Hut zu bringen versuchten.
Ein Sprung zurück in die Gegenwart, nach Utopia im Stadtteil Queens, Ende 2015. Die 22-jährige Reyna Jackson steht an einer Bushaltestelle am Utopia Parkway. Sie trägt einen Kapuzenpullover mit dem Aufdruck «Bernie Sanders 2016» und ist unterwegs nach Manhattan, wo sie Politikwissenschaften studiert. Den demokratischen Sozialisten Sanders würde sie vor allem deshalb wählen, weil er für ein Gratisstudium eintritt.
Reyna Jackson kann sich wegen der hohen Studienkredite keine eigene Mietwohnung leisten. Sie lebt deshalb wie viele andere junge Amerikaner im «Hotel Mama», also bei ihren Eltern. Über das Motto der linken Genossenschaftler von damals «To build a house to conquer the world», also ein Haus bauen, um die Welt zu erobern, kann die New Yorkerin deshalb nur müde lachen. Allein schon die Vorstellung, ein Haus zu bauen - ohne den revolutionären Zusatz - erscheint ihr wie eine Utopie.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.