Zu viel versprochen

Warum gescheiterte Utopien besser sind als gar keine. Von Martin Hatzius

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Das utopische Denken hat hängende Wangen und müde Augen. Es trägt Kostüme in Pastellfarben und fügt seine Hände zur Raute, wenn es zu den Menschen spricht. Das utopische Denken sagt in aussichtsloser Lage: »Wir schaffen das.«

Zugegeben, es mag sich einigermaßen irrsinnig anhören, wenn einem ausgerechnet Angela Merkel als Personifizierung utopischen Denkens einfällt. War es nicht diese Frau - die Pragmatikerin, der Stein in der Brandung, die Basta-Kanzlerin -, die noch vor kurzem mit ihrem Postulat der Alternativlosigkeit jedes zaghafte Rütteln an den Gitterstäben, die den vorgezeichneten Weg realkapitalistischer Krisenbewältigung säumen, für vergeblich erklärte? Oh, doch.

Wo aber Alternativlosigkeit herrscht, muss jeder Wurf abprallen, der ein anderes Ziel hat als eben jene paar Quadratzentimeter, auf denen man gerade steht. Handeln heißt für jemanden, der sich die Welt alternativlos vorstellt, nichts anderes, als das Diktat der sogenannten Wirklichkeit pflichtschuldig zu erfüllen. Mehr noch: Die Behauptung der Alternativlosigkeit muss, wenn sie sich selber ernst nimmt, mit dem Verzicht auf jegliches Handeln einhergehen - sofern man voraussetzt, dass jeder Handlung das Treffen einer Entscheidung vorausgeht. In einer Lage, die wirklich alternativlos wäre, hätte man keine Wahl. Was man täte, täte man weder freiwillig noch gezwungenermaßen, man täte es, weil man schlicht nichts anderes tun könnte.

Eine solche Lage kann es im Leben nicht geben. Leben heißt, jeden Tag einer Vielzahl an Möglichkeiten gegenüberzutreten, von denen manche näher, manche ferner liegen. Jede einzelne der Optionen aber steht offen und kann ergriffen werden - eingedenk der ernüchternden Konsequenzen, die sich daraus ergeben und aufs Neue zu Entscheidungen ermutigen und zwingen. Wer indes alternativlos lebt, lebt gar nicht; er ist tot. Die Gesellschaft für deutsche Sprache scheint das erkannt zu haben, als sie dem Merkel-Ausdruck »alternativlos« im Jahre 2010 attestierte, kein Wort zu sein, sondern ein Unwort. Immerhin dies hätte die Alternativlosigkeit mit ihrer Antipodin, der Utopie, gemein: die Nichtexistenz. Ihrer altgriechischen Bedeutungsherkunft nach ist die Utopie zwar kein Unwort, aber ein Un-Ort.

Umso erstaunlicher, dass es gerade Angela Merkel war, die in diesem Herbst (der Jahreszeit übrigens, die ihr am besten steht) durch die Aussetzung des Dublin-II-Abkommens einen Augenblick lang jene Gitterstäbe öffnen ließ, an denen die Flüchtlinge rüttelten - keine Utopisten, gewiss, aber doch Menschen, die sich ein besseres Leben erhofften als jenes, das sie kannten und es beim Hoffen nicht beließen, sondern sich unter Todesgefahren in Bewegung setzten.

Merkels »Wir schaffen das«, beharrlich behauptet gegen alle Widerstände, war als Bekenntnis zu verstehen - als Bekenntnis zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, die von einer Mehrzahl ihrer bisherigen Gefolgsleute als weder wünschenswert noch realisierbar betrachtet werden. Das Utopia der Flüchtlinge, jenes von ihnen imaginierte gelobte Land, tatsächlich einzurichten: Das darf als Merkels pastellfarbene Utopie betrachtet werden. Freilich, im Land, das die Flüchtlinge vorfinden, fließen auch heute weder Milch noch Honig. Es fließt Benzin aus Molotow-Cocktails. Der Rechtsstaat, auf den sie hofften, hat nichts eiligeres zu tun, als die Asylgesetzgebung zu verschärfen. Und Dublin II ist wieder in Kraft.

War Merkels utopisches »Wir schaffen das« also nichts als eine Floskel, die, wenn nicht von Anfang an hohl, so doch umgehend von ihrer eigenen Regierung ausgehöhlt wurde? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, erweist es sich als hilfreich, den Merkel-Satz einmal ins Englische zu übertragen. Man muss kein guter Übersetzer sein, um dabei auf Obamas Wahlkampf-Slogan von 2008 zu kommen: »Yes, we can«. Es war nicht zuletzt dieses Versprechen, das dem Mann zum weltweit umjubelten Hoffnungsträger aufgeholfen und ihn ins Amt des US-Präsidenten gehoben hat. Und so wie Merkels Flüchtlingspolitik schon heute von vielen als gescheitert betrachtet wird, ließ die Enttäuschung über Obamas tatsächliche Politik nicht lange auf sich warten. Nicht erst jetzt, da sich seine zweite Amtszeit dem Ende nähert, werden Obamas Wahlvorhaben von Kritikern aller Couleur eifrig gegen die tatsächlichen Errungenschaften aufgerechnet - und die Bilanz fällt überwiegend miserabel aus.

Beim letzten Besuch in John Stewarts »Daily Show« wurde Obama im Sommer dieses Jahres gefragt, ob er im Wahlkampf zu viel versprochen habe. Die Antwort des Präsidenten ist bemerkenswert: »Auf jeden Fall.« Man kann Obama nun unterstellen, dass er sich selbst als Hochstapler und Lügner demaskiert habe. Oder man erblickt in seiner Antwort ein Bekenntnis zum utopischen Denken, zu einem heute noch unrealistischen Fernziel also, ohne das politischer Pragmatismus nur auf der Stelle träte. »Wenn wir alles erreichen würden«, so Obama bei Stewart, »dann hieße das, dass wir unsere Ziele zu niedrig angesetzt haben.« Erst müssen die großen Visionen her, dann folgen die kleinen Schritte. »Politik«, schrieb der Chefredakteur dieser Zeitung unlängst in seinem Kommentar zum ersten Jahr Rot-Rot-Grün in Thüringen, »ist Handeln im Jetzt unter Bedingungen, die man sich oft nicht selbst wählen kann.«

Statt abschließend Hermann Hesse mit seinem berühmten Zitat zu bemühen, man müsse das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen, sei hier an den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras erinnert, dessen wackeres Agieren Europa einen Großteil des Jahres in Atem hielt. Auch er hat sein Ziel verfehlt. Aber zweifellos hat er als Visionär, der aus dem Wolkenreich der berechtigten Forderungen bereitwillig auf das harte Parkett der tätigen Diplomatie herabstieg, ein größeres Stück Wegs bewältigt als alle verhinderten Revolutionäre zusammen.

Sich den Mühen der Ebene auszusetzen, verliert umso mehr an Schrecken, je prächtiger man sich den Berg am Horizont ausmalt, den man da zu erklimmen gedenkt. Man wird dann besser vorankommen. Aber es ist heilsam, davon auszugehen, dass man den Gipfel weder heute noch morgen erreicht. Übermorgen sprechen wir uns wieder.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!