Kampf um den roten Planeten

Warum ein auf dem Mars angesiedelter utopischer Roman von links nötig ist. Von Florian Schmid

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 9 Min.

Hat der Mars als utopische Projektionsfläche ausgedient? Pünktlich zum 500. Jahrestag von Thomas Morus’ frühneuzeitlichem Roman »Utopia« scheint der rote Planet auf dem Weg zu sein, final im kapitalistischen Hier und Jetzt anzukommen. Das legen jedenfalls aktuelle Narrative in Literatur, Film und Medien rund um unseren Nachbarplaneten nahe. Der war lange Zeit Inbegriff des geheimnisvollen, womöglich von außerirdischen Lebensformen bewohnten Ortes im Weltraum und utopische Projektionsfläche. Jetzt geht es darum, den Sprung auf den Nachbarplaneten und seine Inwertsetzung vorzubereiten und zu rationalisieren. Eine Utopie, im Sinn eines fiktionalen Entwurfes einer zukünftigen Gesellschaft, wie sie etwa Alexander Bogdanov 1908 in seinem sozialistischen Roman »Der rote Planet« projizierte, sucht man im Zusammenhang mit dem Mars heute vergebens. Dabei ist unser roter Nachbarplanet im Kino gerade ganz groß angesagt. Ridley Scott hat mit der Verfilmung des Bestsellers »Der Marsianer« einen Hit gelandet. Fast pünktlich zur Filmpremiere meldeten Wissenschaftler, dass sie endlich den Beweis für die Existenz von Wasser auf dem roten Planeten entdeckt haben. Das kann ebenso Hinweis auf mögliches Leben dort sein als auch eine Grundvoraussetzung für eine Besiedlung. Noch ein Grund mehr, zum Mars zu fliegen und Ridley Scotts vergleichsweise noch nahe an den technisch vorstellbaren Möglichkeiten erzählte Fiktion Wirklichkeit werden zu lassen.

Eine realistisch-dokumentarische, an eine aktuelle oder vorstellbare Raumfahrttechnologie angelehnte Science-Fiction in Filmen wie »Gravity«, »Europa Report« oder »Moon« hat entsprechend Hochkonjunktur. Wobei die Wirklichkeit von der Fiktion derzeit ohnehin schwer zu trennen ist. So hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt als Vorfilm zu Mark Watneys Robinsonade eine schicke 3D-Animation des Mars beigesteuert. Immer wieder gibt es in den Medien derzeit auch Berichte über die private Stiftung »Mars One«. Die plant in gut zehn Jahren erst einmal vier Menschen auf die über 200 Millionen Kilometer weite Reise auf unseren Nachbarplaneten zu schicken, um dort dauerhaft zu siedeln. Weitere Kandidaten sollen folgen, und zur Finanzierung wird das Kolonisierungsspektakel als Spielshow per TV auf der Erde übertragen. Die NASA will Mitte der 2030er Jahre einen bemannten Flug zum Mars schicken und hat gerade erst die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs für mögliche Siedlungen dort vorgestellt.

Der Siegerentwurf sieht im 3D-Druckverfahren gebaute dreistöckige Iglus aus Eis vor. Die futuristischen Entwürfe für das Wohnen auf dem eisigen roten Planeten erinnern mitunter ein Stück weit an die detailliert beschriebenen Mars-Habitate in Kim Stanley Robinsons lange Zeit vergriffenen und antiquarisch im Internet zu Höchstpreisen gehandelten ersten Teil seiner Trilogie »Roter Mars«. Der pünktlich zum Kinostart von »Der Marsianer« neu aufgelegte 800-seitige Roman von 1993 dürfte neben Andy Weirs jetzt verfilmtem Erfolgsbuch eine der derzeit wichtigsten fiktionalen Narrative zum Mars sein. Die Erzählungen über den roten Planeten stehen in einer langen Tradition, wobei aktuell eine zunehmende Entzauberung des Mars zu beobachten ist. Erste Marserzählungen gab es bereits im 17. Jahrhundert. Einen Höhepunkt erlebte diese Literatur im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals dominierten phantastische Stoffe. Der Mars verkörperte das Fremde, das Bedrohliche oder Faszinierende. Das reichte von den dystopischen Vorstellungen eines Überfalls der Marsianer auf die Erde wie in H.G. Wells’ »Krieg der Welten« oder in Kurd Laßwitz’ »Auf zwei Planeten« über utopische Projektionen wie in Alexander Bogdanovs »Roter Mars« oder Tolstojs auf den Mars exportierte Oktoberrevolution bis hin zu kapitalismus- und imperialismuskritischen Erzählungen, wie sie - wenn auch verhalten - in Philip K. Dicks »Marsianischer Zeitsturz« und in Ray Bradburys »Mars-Chroniken« anklingen. In den 1970er Jahren verändert sich unter dem Einfluss der Forschungsergebnisse der Viking-Sonden die Marsliteratur. Mit deren Landung 1976 auf dem Mars wird klar, dass der Planet definitiv unbewohnt ist. Bis Ende des 19. Jahrhunderts galten die sogenannte Marskanäle, die eine optische Täuschung sind, als gigantisches Bewässerungssystem einer mittlerweile ausgestorbenen Zivilisation. Egal ob die Herleitung einer Menschheitsgeschichte im Sonnensystem oder die sozialistische Zukunft in outer space erzählt wurde - für derartige Projektionen stand der rote Planet nicht mehr zur Verfügung.

Ab Mitte der 1970er ist der Mars nur noch ein kalter, leerer Gesteinsbrocken mit quasi antarktischen Temperaturen, aus dem erst der dorthin reisende Mensch etwas machen kann. Der Mars wird mehr und mehr zum Ziel von Kolonisierung. Im Kino wird mit Arnold Schwarzenegger in »Total Recall« schon mal der Aufstand der Mars-Kolonisten geprobt und in »Red Planet« mit Val Kilmer wird vergeblich versucht, die Atmosphäre des Planeten via Terraforming an die Bedürfnisse des Menschen anzupassen. Terraforming als radikaler Ausdruck einer kolonialen Gestaltung des Mars ist ab den 1990ern ein immer wiederkehrendes Thema und auch zentrales Element in Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie. Hier wird die kapitalistische Inwertsetzung schließlich von einer sich als antikapitalistisch verstehenden Revolution der Kolonisten behindert, die aber letztlich scheitert. Die Revolutionäre ziehen sich in die Polregion zurück und agieren aus dem Untergrund. Utopische Potenzialitäten bietet der Roman, dessen Figuren nach Schriftstellern benannt sind - unter anderem Bogdanow und Tschernischewski -, aber nicht wirklich. Stattdessen ist »Roter Mars« direkter Ausdruck einer mit Gewalt durchgesetzten kapitalistischen Hegemonie. Zumindest konterkariert der 1952 geborene Kim Stanley Robinson in »Roter Mars« Anfang der 1990er das zu dieser Zeit von (dem übrigens gleichaltrigen) Francis Fukuyama verkündete Diktum vom Ende der Geschichte.

Aufschlussreich ist die Rationalisierung der Mars-Kolonisierung bei Stanley Robinson: »Ohne die menschliche Präsenz ist er (der Mars) nur eine Ansammlung von Atomen, die sich von keinem anderen Fleck im Universum unterscheidet. Wir sind es, die ihn erforschen und ihm Sinn verleihen«, erklärt eine der Figuren in »Roter Mars«. Diese Hinzufügung von Wert bzw. dem Boden Wert abzuringen, ist eine ganz grundlegende Idee kapitalistischer Verwertung und Kolonisierung. Eine derartige kapitalistische Landnahme (David Harvey) bietet neue Akkumulationsfelder. In Zeiten der fortlaufend sich weiterentwickelnden systemischen Krise des Kapitalismus kommt der Erzählung einer solchen Landnahme große Bedeutung zur Erzeugung ideologischer Narrative zu und exemplifiziert den Vorstoß des westlich-aufgeklärten Individuums in den nicht kartografierten Raum als grundlegende Figur kolonialer Landnahme - egal ob die männlichen Helden als brutale Eroberer in den Kongo, als hart gesottene Forscher in die Antarktis oder als Popmusik hörende Astronauten in den Weltraum vordringen.

Deutlich wird das in Andy Weirs jetzt von Ridley Scott verfilmtem Roman »Der Marsianer«, der eine Robinsonade im Weltraum erzählt und die Entzauberung in radikalisierter Weise fortschreibt. Der gestrandete Astronaut schafft es, in der unwirtlichen Umgebung zu überleben und jedes Stück Ausrüstung zu recyceln. Genauso wie Daniel Defoe in »Robinson Crusoe« den Anspruch auf die koloniale Beherrschung und Kartographierung des letzten unbekannten Winkels der Erde in Szene setzt, exemplifiziert »Der Marsianer« die spätkapitalistische Entzauberung der vor kurzem noch unendlichen Weiten des Weltalls. Damit einher geht die Herstellung eines globalen Standortkollektivs, das zusammenrückt und gebannt auf Großbildleinwänden im gigantomanischen Public Viewing vom Times Square bis Tiananmen die Abenteuer des Astronauten verfolgt. Die Rettungsaktion wird zum wissenschaftlichen Fortschrittsprojekt. »Berücksichtigen Sie auch den Wert, den Mark Watneys verlängerte Mission hat. Dieser überlange Aufenthalt auf dem Mars und sein Kampf ums Überleben schenken uns mehr Wissen über den Planeten als das gesamte bisherige Ares-Programm zusammen«, erklärt die NASA-Pressesprecherin im Roman in einer CNN-Sondersendung. Im Zentrum von Ridley Scotts Science-Fiction-Klassikern »Alien« (1979) und »Blade Runner« (1982), die genrebildend für Film und Literatur waren, standen ebenfalls Einzelkämpfer. Aber Ripley (»Alien«) und Decker (»Blade Runner«) brechen mit dem System und rennen konsequent gegen die Ordnung an. In »Der Marsianer«, der ähnlich prägend für noch kommende Marserzählungen werden könnte, wird erst durch Kommunikation und Kooperation mit dem System ein Überleben möglich.

Überhaupt werden politische, soziale und ökonomische Fragestellungen in »Der Marsianer« komplett ausgeblendet. Zu berücksichtigen ist auch die Rolle der Weltraumfahrt für die militärische Nutzung, wird doch ein konventioneller Krieg inklusive des Einsatzes von Drohnen auf der Erde erst durch satellitengestützte Technologie ermöglicht. Insofern bieten Filme wie »Der Marsianer« oder »Interstellar«, die der NASA und ESA trotz der Dual-Use-Ausrichtung (militärisch und zivil) ihrer Programme rein zivile Ziele unterstellen ein pinkwashing dieser Institutionen. Im Abenteuer des auf den Mars verschlagenen Mark Watney wird so die ganze Litanei der falschen Glücksversprechen des Kapitalismus vom technologischen Fortschritt bis zur vermeintlich universal humanitären Gemeinschaft heruntergebetet. Mit Utopien, die lange Zeit auf den Mars projiziert wurden, hat das nichts mehr zu tun. Auch wenn der Utopiebegriff im Zusammenhang mit dem Mars in den Medien derzeit eine unglaubliche Konjunktur erlebt und gefühlt jeder zweite Zeitungsartikel zum Thema damit überschrieben ist. Und nicht nur im Hinblick auf den Mars, im gesamten Genre der Science-Fiction fehlt es an utopischen Gegenentwürfen. Stattdessen boomen in Kino und Literatur die Dystopien. Die Frage ist, ob damit ein möglicher Raum für eine Reflexion über eine zukünftige andere Welt verloren geht.

Dagegen hat der Utopiebegriff in der politischen Linken derzeit durchaus Konjunktur, wenn etwa Axel Honneth in seinem neuen Buch nach einer »Erklärung für dieses plötzliche Versiegen utopischer Energien« sucht, der Begriff in den Grundsatzpapieren postautonomer Gruppen oder im Erfurter Programm der LINKEN auftaucht oder den Recht-auf-Stadt-Bewegungen immer wieder als Referenzpunkt dient. Warum also nicht auch in der Science-Fiction, die in Film- und Buchform gerade boomt wie lange nicht mehr und wo klassischerweise utopische Möglichkeiten narrativ durchgespielt wurden. Der Politologe Alexander Neupert-Doppler merkt in seinem Band zu Utopien an, dass es nicht darum geht, heute neue utopische Romane zu schreiben. Aber stimmt das wirklich? Oder geht es unter Umständen gerade darum, den mittlerweile im popkulturellen Modus als 3D-Kinoabenteuer in Szene gesetzten Rationalisierungen der Landnahmen und Verwertungen eine andere - eine utopische - Erzählung entgegenzuhalten? Bekanntermaßen bringt jede Zeit ihre eigenen utopischen Entwürfe hervor und gäbe es nicht heute genügend Gründe, die schmerzhaften Erfahrungen gescheiterter Revolutionen mit dem Träumen über ganz andere Gesellschaftsformen zu verarbeiten? Inspirierend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf einen vor 30 Jahren erschienenen Text.

In den 1980er Jahren, als die große Welle der utopischen Science-Fiction der 1970er vorüber war, machte Donna Haraway mit ihrem »Cyborg-Manifest« Furore, einem Text, der noch heute zur Grundlagenlektüre feministischer und herrschaftskritischer Politgruppen gehört. Darin formuliert sie die utopische Potenzialität eines Aufbrechens herrschaftlicher Strukturen durch die subversive Aneignung technologischen Fortschritts. Mitte der 1980er, in Zeiten der neoliberalen Konterrevolution und des Kalten Krieges, als die Science-Fiction zur Rationalisierung des Wettrüstens im Schlussspurt des kapitalistischen Etappensiegs diente, waren Cybertechnologie und Digitalisierung eng mit einer herrschaftsförmigen Ideologie verknüpft. Der technologische Fortschritt war Teil der Rüstungsindustrie, neuer Überwachungstechniken und eines ausufernden Konsumismus und der Kulturindustrie. Die technologischen Möglichkeiten subversiv zu unterwandern, in ihnen utopische Potenzialitäten aufzuspüren und sich diese anzueignen, war erklärtes Ziel von Donna Haraways Manifest. Ihr feministischer und sozialistischer Cyborg ist ein Gegenpol zu Figuren maskuliner Science-Fiction-Kriegstechnologie wie Darth Vader und Terminator.

Die Frage ist, ob und wie heute eine Aneignung der Narrative rund um die marktradikalen Landnahmen in den Weiten des Alls realisiert werden kann. Denn eine reine Negation der bestehenden Verhältnisse und ihrer Narrative reicht bei weitem nicht aus. Könnte nach der Kritik die Utopie kommen? Den kapitalistischen Wertverwertern das Science-Fiction-Genre zu überlassen, ist definitiv ein Fehler. Vielmehr geht es darum, utopische Narrative zu entwickeln: Ganz im Sinn der kritischen Theorie sollten dies keine geschlossenen Systeme sein, sondern ihre eigene Widerlegung mit erzählen und so zu offenen Aushandlungsorten werden.

Ein auf dem Mars angesiedelter utopischer Roman könnte aktuell einen nicht zu unterschätzenden Resonanzraum für gesellschaftliche Alternativentwürfe bieten, die jenseits kapitalistischer Verwertungszwänge stehen und einen ebenso vorsichtigen wie wagemutigen Blick in die Zukunft werfen.

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