Ein Mann, ein Plan

  • Volker Surmann
  • Lesedauer: 3 Min.

U-Bahnhof Potsdamer Platz, an einem Montag um 23 Uhr, der Bahnsteig verwaist. Nur ich und ein anderer Mann stehen an diesem Ende der Plattform. Ich warte, der andere Mann steht vor der Tafel mit dem Stadtplan und reißt ihn ab. Fetzen für Fetzen knibbelt er vom Holz, und wenn seine Hände voll sind, läuft er zum Mülleimer und entsorgt sie darin. Dann fährt er mit seiner geheimnisvollen Arbeit fort.

Ich beobachte ihn eine Weile. Sorgsam pult er an den ausgefransten Rändern der lädierten Karte, bis sich wieder eine Lage löst, und zieht einen Streifen geschickt ab. Gerade knüllt er Köpenick zusammen. Im nächsten Arbeitsgang zerquetscht er Friedenau und entsorgt beide Stadtteile vereint im Papierkorb. Anschließend pfriemelt er an Britz rum.

Er geht gezielt vor, mit kindlichem Eifer. Wie ich früher, wenn ich meiner Mutter beim Tapezieren half; da musste vorher die alte Tapete runter, und je größer der Fetzen war, den man in einem Stück von der Wand kriegte, desto größer war die Befriedigung. Ist das sein Begehr? Emotionale Selbstbefriedigung durch Stadtplanzupferei? Ist das dieses kriminelle »Abziehen«, das ja oft im Umfeld von U-Bahnhöfen geschehen soll?

Ist er einer dieser Quartiersverrückten? Wie die Zetteloma in Kreuzberg, oder diese seltsame Frau, die mit Kreide die Gehwege meines ganzen Kiezes einst vor »ihnen« warnte? Ist der junge Mann bei den hiesigen Anwohnern etwa bekannt als »der Stadtplanknibbler vom Potsdamer Platz«? (Gibt’s am Potsdamer Platz überhaupt Anwohner?) Sollte ich ihm zurufen: »Was auch immer diese Stadt ihnen angetan hat, so kriegen sie Berlin nicht klein!«?

Doch der Mann wirkt nicht verrückt, sondern eher, als folge er einem inneren Plan. Gerade setzt er seine Fingernägel ein, aber Kreuzberg wehrt sich. »Entschuldigung«, spreche ich ihn an. »Verzeihen Sie meine Neugier, aber warum tun sie das?« Er dreht sich um, und schaut mich an. Er wirkt völlig klar, als er mir antwortet: »Der Plan ist doch völlig veraltet. Der bringt die Leute doch nur durcheinander. Ist doch besser, wenn jeder sofort sieht, dass das nur die Reste eines uralten Plans sind.«

Wir schauen auf die Karte, auf dem alle U- und S-Bahnlinien fett markiert sind. Die U2 endet an der Vinetastraße; dort, wo der Hauptbahnhof eingezeichnet sein sollte, steht bloß »Lehrter Bahnhof«, es gibt keinen S-Bahn-Ring, Berlin besteht aus 23 Bezirken. - Ohne Zweifel: Der Stadtplan ist aus den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts.

»Wenn wenigstens ›Historischer Stadtplan‹ drüber stände!«, echauffiert sich der Mann. »Aber gerade hier, wo so viele Touristen sind, verwirrt der doch nur.«

Ich nicke und habe zweierlei gelernt. Erstens: Früher war nicht alles besser. Das ÖPNV-Netz Berlins sicher nicht, das verrät der olle Stadtplan sofort, aber eins verrät er doch: Früher war der Kleister besser. Alles, was über diesem Plan mal geklebt hat, ist verschwunden. Und zweitens: Manchmal steckt in Berlin hinter Irrsinn doch Methode.

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