Perforierte Zeit

Stephan Abarbanells Roman »Morgenland« führt ins Jahr 1946

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Der erste Roman des Theologen und Rundfunk-Kulturchefs (rbb) Stephan Abarbanell ist ein gelungener Wurf, spannend erzählt, geschickt konstruiert und durch fundierte Kenntnisse unterfüttert. Er ist, so könnte man sagen, mehr als nur ein Roman, anschaulich geschildert, ähnelt er einem historischen Dokumentarfilm. Aber die Romanhandlung ist erfunden und zum Ende hin spannend wie ein Kriminalroman. Das hat wiederum mit den Orten und der Zeit zu tun, in die Abarbanell die Leser mitnimmt: in das englische Mandatsgebiet Palästina und in das kriegszerstörte Deutschland im Sommer 1946.

Es ist »eine Zeit zwischen den Zeiten. Displaced. Nichts an seinem Ort. Die Wunden des Krieges und der Gewaltherrschaft sind tief und überall sichtbar und spürbar«, schreibt der Autor im Nachwort. Im Roman fällt mehrmals das Wort »perforierte Zeit«. Dieser Begriff trifft es am besten. Alles ist »perforiert«, die Städte sind es, die Häuser, die Informationen, die Seelen der Menschen. Eine Spurensuche, und von der erzählt das Buch, muss also zwangsläufig zu einer Kriminal-Story werden.

Aber die Geschichte hat bei aller Wirrnis auch eine hoffnungsvolle, glückverheißende Seite, schwach allerdings wie ein zartes Pflänzchen. Lassen wir den Autor also am Schluss eine etwas vage Begegnung und eine mögliche Liebe konstruieren! Das ist das Vorrecht des Romanschreibers. Die Geschichte beginnt im »Morgenland« Palästina (den Begriff »Morgenland« dürfen wir doppeldeutig verstehen), wo sich der Widerstand gegen die britischen Besatzer in vielen unterschiedlichen Gruppierungen formiert.Die junge Lilya Wasserfall, Tochter deutsch-jüdischer Eltern, trauert um ihren Freund und Ziehbruder Yoram, der in einem der blutigen Kämpfe ums Leben gekommen ist. Nun engagiert sie sich selbst in der illegalen Widerstandsgruppe, will im Land aktiv werden, erhält aber statt dessen den Auftrag, nach Europa zu reisen und nach dem verschollenen jüdischen Wissenschaftler Rafael Lind zu suchen.

In einem Jerusalemer Café trifft sie sich deshalb mit dem Schriftsteller Elias Lind, dem Bruder des Gesuchten. Elias hat von den Briten die Nachricht vom Tod des Wissenschaftlers erhalten, glaubt aber, handfeste Indizien zu haben, dass er noch lebt. Er übergibt ihr eine geheimnisvolle, merkwürdig beschriftete Fotografie. Die wird später, wir ahnen es, noch eine wichtige Rolle spielen. Die junge Frau begibt sich auf eine, wie bald deutlich wird, gefährliche, ja lebensbedrohende Reise, zuerst nach London, dann nach München und weiter über das jüdische Flüchtlingslager Föhrenwald und das Raubgutdepot in Offenbach bis ins völlig zerstörte Berlin, schließlich nach Bergen-Belsen.

Auf den Fersen ist ihr nicht nur der britische Geheimdienst, sondern auch ein Fremder im grauen Anzug, der auftaucht, verschwindet und wieder auftaucht. Mehrmals entgeht sie Anschlägen auf ihr Leben nur im letzten Moment mit einem »blauen Auge«. Aber sie ist eigensinnig, gibt nicht auf, entgegen den Anweisungen aus Jerusalem und gegen alle Vernunft. Die »Suche nach Heimat und … so etwas wie Erlösung« (der Autor) am Schluss machen die erfundene Geschichte zu einer möglichen und gelungenen. Die endet - wie könnte es anders sein? - im »Morgenland« Palästina.

Stephan Abarbanell: Morgenland. Roman. Blessing, 459 S., geb., 19,99 €.

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