Keine Nachwuchssorgen für Dschihadisten
Im Nordkaukasus lebt der Traum vom Gottesstaat zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer
Nachwuchssorgen würden die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Nordkaukasus nicht plagen, fürchten Moskauer Experten. Eine hohe Arbeitslosigkeit sorgt für Zulauf und das Waffenhandwerk gilt in der Region traditionell als ehrbar. Für die meisten jungen Männer seien die Dschihadisten keine Verbrecher, sondern Helden. So mancher zeige sich öffentlich gar mit schwarzem T-Shirt, auf dem das weiße IS-Logo prange. Vor zehn Jahren waren Shirts mit dem Konterfei von Osama bin Laden ähnlich beliebt. Sie waren auf Märkten zu kaufen, Händler versteckten sie nicht einmal.
Zwar krankt der IS an ähnlichen Defiziten beim Aufbau staatlicher Strukturen wie Al Qaida und das sogenannte Emirat Kaukasus. Das hatte der radikal-islamische Flügel der tschetschenischen Separatisten nach der Befriedung der einstigen Rebellenrepublik aus der Taufe gehoben, um den Uralttraum der Nordkaukasier von einem Gottesstaat zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer wahr zu machen. Diese offenkundige Schwäche werde von gewaltbereiten Muslimen in der Region jedoch ignoriert, warnte die außenpolitische Wochenzeitschrift »Russland in der globalen Politik«. Mehr noch: Sie würden versuchen, einschlägige Defizite durch Terror und kompromisslose Durchsetzung des Ur-Islam oder dessen, was sie dafür halten, zu kompensieren.
Bereits 5000 bis 8000 Bürger Russlands, so räumte der Chef des Präsidentenamtes, Sergej Iwanow, bereits ein, als er die Notwendigkeit russischer Luftangriffe in Syrien begründete, würden auf Seiten des IS kämpfen. Vor allem in Syrien und Irak, aber auch in Pakistan und Afghanistan. Hinzu käme in etwa die gleiche Anzahl von Dschihadisten aus den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken. Die seien nach der Rückkehr noch radikaler und fanatischer.
Der IS sei daher für Russland eine »direkte Bedrohung«, die fern der eigenen Landesgrenzen liquidiert werden müsse. Es gehe bei der Syrien-Operation nicht um außenpolitische Ziele oder Ambitionen, sondern um den Schutz nationaler Interessen.
In der Tat: Bürger Zentralasiens können visafrei und meist nur unter Vorlage des Personalausweises nach Russland einreisen. Arm, bildungsfern und aus den rückständigsten Ecken der Region erleben sie die relative Freizügigkeit in russischen Städten als Kulturschock und suchen Schulterschluss mit Gleichgesinnten: radikalen Islamisten aus dem Nordkaukasus und den Muslim-Regionen an der Wolga. Sie lauschen gemeinsam mit ihnen Hasspredigern in Moscheen, die vom offiziellen loyalen Islam nicht kontrolliert werden.
Eine handlungsfähige laizistische Opposition, die latente Unzufriedenheit artikulieren und kanalisieren könnte, fehlt. Weil sie von Moskaus Fördertöpfen abhängig sind, gehen die Provinzfürsten im Nordkaukasus gegen Regimekritiker sehr viel schärfer vor als die Kollegen in Moskau oder St. Petersburg.
Hinzu kommen ungelöste ethnische Konflikte aus der Stalinära. Um Aufstände zu vermeiden, hatte der Diktator binationale Kunstgebilde wie Kabardino-Balkarien geschaffen. Statt mit den stammesverwandten Karatschaiern wurde das Turkvolk der Balkaren dort mit Tscherkessen und Zwangsumsiedlern aus Zentralrussland zusammengesperrt. Mit nur 12,6 Prozent an der Gesamtbevölkerung beteiligt, fühlen sich die Balkaren bei Verteilungskämpfen um Acker und Weideland über den Tisch gezogen und in den Machtstrukturen unterrepräsentiert. Sie reagierten mit dschihadistischen Zusammenschlüssen wie Jarmuk.
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