Für ein Leben ohne Angst
Vor einem Jahr zog Inge Hannemann in die Hamburgische Bürgerschaft ein - Aktivistin ist sie dennoch geblieben
Als Inge Hannemann eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, sah sie sich gefangen in einem tiefen schwarzen Loch. Der Körper völlig erschöpft, der Geist nicht imstande zu arbeiten - und das Gemüt in die für diese Krankheit typische tränenlose Trauer taumelnd. Sie blickte aus dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung, die sie ursprünglich aufgrund der grandiosen Aussicht erwählt hatte. Sie musterte den geschäftigen Hafen und die schweren Schiffe, sie sah den wolkenfreien Himmel und die im Sonnenlicht glänzende Elbe. Sie nahm das grüne Frühlingserwachen wahr und das Zwitschern der Blaumeisen da draußen. Drinnen bemerkte Inge Hannemann, dass sie bei all dem rein gar nichts mehr empfand.
An diesem Tag im Mai 2010 musste sich die zuvor so rastlose Frau ihre Verwandlung eingestehen. Sie war, wie ihr später ein besorgter Arzt bestätigen sollte, völlig ausgebrannt. Lange Zeit hatte sie sich als Fallmanagerin im Jobcenter aufgerieben; nicht auf Sanktionen und Druck gesetzt, sondern auf Verständnis und Dialog. Sie verschaffte damit erstaunlich vielen Erwerbslosen einen sinnreichen Arbeitsplatz, traf aber bei ihren Vorgesetzten auf Widerstand. Ein zum Scheitern verurteilter Kampf. Inge Hannemann wusste, dass sie jetzt eine längere Auszeit brauchte. Denn sie konnte einfach nicht mehr.
Fünfeinhalb Jahre später wendet sich die Parlamentsvizepräsidentin Christiane Schneider in der Hamburgischen Bürgerschaft der Abgeordneten Inge Hannemann zu: »Sie haben das Wort für die LINKE.« Am Rednerpult biegt die zierliche arbeitsmarktpolitische Sprecherin ihrer Fraktion das Mikrofon nach unten, während ihr ein Vertreter der SPD etwas entgegenbrüllt. Was genau, ist kaum zu verstehen. Aus Hannemanns Antwort erschließt es sich: »Ich bleibe sitzen, wenn ich in Rente gehe. Ich gehe noch nicht in Rente.«
Wie auch? Schließlich ist die Mittvierzigerin gerade erst in die Politik eingestiegen - und sie hat noch so viel vor. Heute argumentiert Hannemann für ein Nahverkehrsticket, das Sozialleistungsbezieher sich auch leisten können. Vom Auditorium schlagen ihr während des fünfminütigen Redebeitrags Hohn und Spott entgegen. Ihr Blick wird im Laufe der Ansprache immer entschlossener. Um gegen den Lärmpegel zu bestehen, spricht sie lauter: »Liebe rot-grüne Koalition! Was Sie hier machen, ist offener Sozialdarwinismus! Sie grenzen Menschen aus!«
Im Februar 2015 wurde Inge Hannemann über einen Listenplatz in die Bürgerschaft gewählt. Ihre Ziele, die in dem zwei Monate später erschienenen Buch »Die Hartz-IV-Diktatur« stehen, lesen sich ausnehmend ambitioniert. Ihr geht es, so schreibt Hannemann, um eine »Neudefinition der Begriffe Arbeit und Leistung«. Sie will »kurzfristig eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes auf ein Niveau, das den Bedingungen in unserem Grundgesetz entspricht: ein Regelsatz oberhalb der Armutsgrenze.« Außerdem fordert sie »die sofortige Abschaffung jedweder Sanktionspraxis«.
Gerade gegen Letztere lässt sich in Hamburgs Parlament nicht viel ausrichten. Weil Hannemann das weiß, trifft sie sich Ende Januar 2016 in einem zur kreativen Wirkungsstätte der Startup-Szene umfunktionierten Fabrikgebäude in Berlin-Kreuzberg mit sieben jungen Leuten. Vor Notebooks sitzend, debattiert die Gruppe in dieser durch einen Holzverschlag vom Rest des Großraums separierten Ecke über das beste PR-Konzept ihres in den Startlöchern befindlichen Vereins namens »Sanktionsfrei«.
Am Kopf des Tisches klappt die verspätet eingetroffene Hannemann den Laptop auf und informiert ihre mehr als 15 000 Facebook-Fans, dass sie sich in der Bundeshauptstadt befindet: »Heute treibe ich mich mal wieder hier herum und muss anständig bleiben, da mit Medienbegleitung. ›Ein Jahr Bürgerschaft als Neue‹. Nun ja, so trocken wie ich bin, kann nicht viel passieren.« Die parallele Debatte der digitalen Bohemiens um die ersten Aktionen verläuft ebenfalls trocken, der Sprachgebrauch während dieser Diskussion hebt sich aber deutlich von Hannemanns Terminologie ab.
Als der Tagesordnungspunkt »Pressekonferenz« besprochen wird, betritt Meera Zeremba den Raum, stellt ihre Kaffeetasse ab und setzt sich im halben Schneidersitz auf einen freien Drehstuhl. Im Team ist die Sozialwissenschaftlerin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Und sie spricht sofort aus, was ihr im Vorfeld des Medientermins wichtig erscheint: »Wir wollen ja die Crowd mit unserem Content catchen, und da müssen wir unbedingt auf die Tonality achten.«
Ein Satz, dessen Bedeutung sich den meisten ALG-II-Beziehern doch nur schwer erschließen dürfte? »Wir wollen«, erklärt die Diskussionsleiterin Helena Sophia Steinhaus, »den Leuten mit einfacher Sprache helfen, sie aber nicht unbedingt aktiv einbeziehen.« Das, ergänzt sie, klinge böser, als es gemeint sei: »Betroffene sind verständlicherweise oft sehr emotional. Wenn wir aber erfolgreich sein wollen, dann müssen wir möglichst rational agieren.«
Während die Gruppe nickt, füttert Hannemann weiter ihr Facebook-Profil. In ihrem nächsten Beitrag kündigt sie »Sanktionsfrei« an. Mit dem Verein, schreibt sie, wollen die Gründer »die Hartz-IV-Sanktionen bekämpfen und im besten Fall abschaffen«. Dafür haben sie einige Tricks moderner Kampagnenarbeit parat: Erst nach der Pressekonferenz soll die Website online gehen; in den sozialen Netzwerken veröffentlichen sie täglich kleine Texte (»Wusstest du, dass im Jahr 2014 die Jobcenter 1 001 103 Sanktionen verhängt haben?«); den Medien wird eine Sperrfrist auferlegt, vor deren Ablauf sie nicht über das Projekt berichten dürfen. Das soll die Spannung in der »Crowd« erhöhen und Journalisten neugierig machen.
Inge Hannemann gilt den Aktivisten als PR-Coup, denn mit ihr wissen sie eine bei Verbänden wie Parteien gut vernetzte Prominente an ihrer Seite. Hannemann soll das »Gesicht« des Vereins sein und das Projekt der Öffentlichkeit vorstellen. Im Einladungsschreiben an die Medien wird sie als »Hartz-IV-Rebellin« bezeichnet. Es ist der Begriff, den ihr die Presse nach der krankheitsbedingten Pause im Jahr 2011 verpasste.
Eigentlich mag Hannemann diesen Beinamen nicht. Bei einer Zigarette auf dem Balkon des Gebäudes gesteht sie ein, sie habe sich damit arrangiert: »So funktionieren Medien eben. Wenn mein Thema ankommen soll, ist meine herausgehobene Stellung leider nötig.« Die Sonne scheint an diesem milden Wintertag. Sie spiegelt sich in den Fensterscheiben der zwischen Görlitzer Bahnhof und Schlesischem Tor über die Schienen ratternden Wagen der U-Bahn-Linie 1.
Inge Hannemann schließt die Augen und atmet tief durch. Seit sie solche Momente des Alltagsglücks wieder genießen kann, arbeitet sie unermüdlich daran, die Öffentlichkeit, aber auch die Politik und die Jobcentermitarbeiter davon zu überzeugen, dass Hartz IV falsch ist. »Mein Ziel war es«, so Hannemann, »die Strukturen der Bundesagentur für Arbeit von innen her zu verändern. Darum wollte ich 2011 wieder ins Jobcenter Hamburg-Altona zurückkehren.«
Ihrem Arbeitgeber schmeckte dieser Eigensinn nie. Jetzt sah er eine Gelegenheit, die unliebsame Untergebene loszuwerden und gab Gutachten in Auftrag, die ihr »psychische Instabilität« attestieren sollten. Als das nicht gelang, sollte Hannemann versetzt werden auf eine Position, in der sie mit Sozialleistungsbeziehern nicht mehr in Kontakt kam. Die Verschmähte klagte gegen die Versetzung, wies auf ihrem Weblog systematische Repressionen der Jobcenter gegen Hartz-IV-Bezieher nach, gab Interviews und schrieb Brandbriefe.
Den damals häufig geäußerten Appell spricht sie auch an diesem Tag auf dem Kreuzberger Dach aus: »Gerade wir Deutschen sollten aus der Nazidiktatur gelernt haben, dass wir uns am Ende des Tages nicht hinter Gesetzen und Vorschriften verstecken dürfen, wenn wir damit jemandem Unrecht tun.« Im Dezember 2014 schloss sie vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg einen Vergleich mit der Behörde und räumte daraufhin endgültig ihren Arbeitsplatz. »Ich bin pragmatisch«, wiederholt Hannemann ihre Selbsteinschätzung, »deshalb versuche ich das System jetzt von außen zu verändern.«
Nachdem sie ihre zweite Zigarette ausgedrückt und sich schon verabschiedet hat, dreht sich Inge Hannemann noch einmal um. Sie hat noch nicht über ihre Vision geredet: das bedingungslose Grundeinkommen. »Ich träume nachts gut und freue mich morgens auf meine Arbeit, weil ich einen guten Job habe«, sagt sie. Das sei vielen nicht vergönnt. »Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und müssen nicht zur Arbeit gehen, sondern dürfen es. Weil Ihre Existenz gesichert ist, können Sie tun, was Ihnen am meisten Freude bereitet. Die Arbeit wäre befreit von Angst. Wäre das nicht …« Sie zögert, den Satz zu vollenden, setzt dann aber wieder an: »Wäre das nicht revolutionär?«
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