Das Gesetz der großen Zahl

Kanadischer Physiker zeigt, wie man echte von fiktiven Verschwörungen unterscheiden kann. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Mondlandung von »Apollo 11« hat nie stattgefunden, sondern wurde in einem Filmstudio gedreht. Flugzeuge versprühen Giftwolken, sogenannte Chemtrails, um unter anderem das Wachstum der Bevölkerung zu bremsen. Die Medien in Deutschland werden »von oben« manipuliert und kontrolliert. Die Liste der Verschwörungstheorien ist lang. Und auch die Zahl der Menschen, die glauben, dass verborgene Mächte unser Schicksal bestimmen, geht vermutlich in die Millionen.

Häufig beruht eine Verschwörungstheorie auf ein paar gesicherten Fakten sowie zahlreichen unbewiesenen Behauptungen, aus denen ein bizarrer Kausalzusammenhang konstruiert wird. Kritik daran findet in der Regel kein Gehör. Im Gegenteil. Alles, was die These einer Verschwörung stützt, wird von deren Anhängern begierig aufgegriffen, was nicht ins Konzept passt, wird ignoriert oder für falsch erklärt. Hartgesottene Verschwörungstheoretiker fühlen sich dabei weder an die Regeln der Logik noch die Erkenntnisse der Wissenschaften gebunden. Darüber hinaus unterschätzen viele die Gefahr, dass bei der zumeist großen Zahl von Mitwissern an einer Verschwörung der eine oder andere das Geheimnis frühzeitig ausplaudert.

Ein schwedisches Sprichwort sagt: »Was einer weiß, weiß keiner, was zwei wissen, weiß bald jeder.« Das ist gewiss stark übertrieben. Gleichwohl kann niemand genau sagen, wie viele Mitwisser einem Geheimnis bzw. einer Verschwörung noch zuträglich sind. David Robert Grimes, ein an der Oxford University arbeitender kanadischer Physiker, hat diese Frage jetzt zu beantworten versucht - und das nicht nur aus theoretischem Interesse: »Zwar ist der Glaube an eine vorgetäuschte Mondlandung im Grunde harmlos. Der Glaube an falsche Informationen über das Impfen kann jedoch tödlich sein.« Daneben macht Grimes aber auch darauf aufmerksam, dass nicht jede Verschwörungstheorie per se falsch sein muss. Als Beispiel nennt er die Enthüllungen Edward Snowdens über die durchaus als verschwörerisch zu bezeichnenden Aktivitäten der National Security Agency (NSA), des größten Auslandsgeheimdienstes der USA.

Die wichtigste Voraussetzung einer gelungenen Verschwörung ist bekanntlich die Geheimhaltung. Grimes’ Ziel war es daher, die Wahrscheinlichkeit dafür zu berechnen, dass eine Verschwörung entweder mit Absicht, also durch sogenannte Whistleblower, oder durch einen Fehltritt Einzelner öffentlich wird. Diese Wahrscheinlichkeit hängt maßgeblich von zwei Faktoren ab, von der Zahl der eingeweihten Personen und der Dauer der Verschwörung. Darüber hinaus berücksichtigte Grimes, dass manche Verschwörer im Laufe der Zeit eines natürlichen Todes sterben. Sie können dann das gehütete Geheimnis nicht mehr ausplaudern, und die Gefahr, dass die Verschwörung auffliegt, sinkt. Dagegen ist die Ermordung von Mitwissern keine gute Strategie, um ein Komplott zu retten. Denn dadurch werden die Überlebenden in Panik versetzt und manche dazu verleitet, zur eigenen Sicherheit die Polizei oder die Öffentlichkeit zu informieren.

Um sein Modell der Realität anzupassen, stützte sich Grimes auf drei bekannt gewordene reale Verschwörungen. Erstens auf die bereits angeführte Snowden-Affäre. Zweitens auf den sogenannten FBI-Forensik-Skandal, der 1998 von dem Whistleblower Frederic Whitehurst enthüllt wurde. Danach hatte das FBI jahrelang Unschuldige mit falschen forensischen Analysen ins Gefängnis und in die Todeszelle gebracht. Einige Verurteilte wurden sogar hingerichtet. Als drittes Beispiel wählte Grimes das 1932 gestartete Tuskegee-Syphilis-Experiment. Hierbei verzichteten US-Ärzte absichtlich auf die mögliche Behandlung von afroamerikanischen Syphiliserkrankten, um den natürlichen Verlauf einer Syphilis-Infektion genau studieren zu können. 1972 kam die ungeheuerliche Geschichte ans Licht und wurde im »Washington Evening Star« veröffentlicht.

Anhand der ungefähren Zahl der Mitwisser sowie der Zeit, die bis zur Aufdeckung der drei erwähnten Verschwörungen verging, entwickelte Grimes eine Formel, die er anschließend auf vier andere »Verschwörungen« anwandte (PLOS ONE, DOI: 10.1371/journal.pone.0147905). Im Fall der Mondlandung schätzte er die Zahl der involvierten Personen auf rund 410 000. Damit hätte eine mögliche Verschwörung bereits nach drei Jahren und acht Monaten auffliegen müssen. In Wirklichkeit liegt die Mondlandung schon 46 Jahre zurück. Das heißt: Wäre Neil Armstrongs berühmter Schritt tatsächlich nur ein großer Bluff gewesen, hätten laut Grimes’ Formel lediglich 251 Personen davon etwas wissen dürfen.

Eine weitere Verschwörungstheorie besagt, dass ein wirkungsvolles Heilmittel gegen Krebs in der Medizin längst verfügbar sei. Dieses werde jedoch von der Pharmaindustrie zurückgehalten, da Langzeittherapien mehr Profit brächten. Bekanntlich gilt auch die Theorie vom anthropogen verursachten Klimawandel vielen als Schwindel, den Wissenschaftler nur deshalb ersonnen hätten, um Geld für ihre Forschungsprojekte zu erschleichen. Immer mehr Anhänger gewinnt seit Jahren die sogenannte Impfverschwörung. Danach werde von der Schulmedizin geschickt verschleiert, dass Impfen mehr schade als nütze und bei Kindern häufig Autismus auslöse.

Hält man sich an Grimes’ Formel, dann hätte die »Krebsverschwörung« (bei rund 700 000 beteiligten Personen) bereits nach drei Jahren und drei Monaten publik werden müssen. Bei der »Klimalüge« beträgt der entsprechende Wert drei Jahre und neun Monate, beim »Impfkomplott« drei Jahre und zwei Monate. Eine Verschwörung, die nicht nach der berechneten Zeit auffliege, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit keine, meint Grimes.

Grundsätzlich folgt aus seinem Modell, dass an einer Verschwörung, die für mindestens fünf Jahre Bestand haben soll, nicht mehr als 2500 Menschen beteiligt sein dürfen. Will man die Dauer der Vertuschung auf zehn Jahre ausdehnen, sollten nicht mehr als 1000 Personen eingeweiht werden. Und über die lange Distanz eines Jahrhunderts lässt sich ein Komplott nur dann aufrechterhalten, wenn weniger als 125 Menschen um das Geheimnis wissen. Grimes’ Verschwörungsformel mag als grobe Orientierung durchaus hilfreich sein. Nur leider fehlt darin ein wichtiger Parameter, nämlich die Geldsumme, die vielen Medien heute eine spektakuläre Schlagzeile wert ist. Diese Summe kann, wenn sie eine gewisse Höhe überschreitet, jede Statistik über den Haufen werfen.

Echte Verschwörungstheoretiker dürften sich aber auch sonst von Grimes’ Modell kaum beeindrucken lassen. Denn ihre Überzeugung hängt nicht von berechneten Plausibilitäten ab. Sie beruht zumeist auf einem irrationalen Glauben an Zusammenhänge, die ideologisch konstruiert und weit entfernt sind von allem, was heute Wissenschaft ausmacht.

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