Der Club der toten Schriftsteller
»Romane erzählen die Wahrheit.« Der Brite Julian Barnes sinniert erzählend über das Erzählen
Der Roman »Ulysses« von James Joyce sei »im Grunde eine mit Steroiden vollgepumpte Short Story, grotesk aufgeschwellt. Wenn der ›Ulysses‹ bei den Olympischen Spielen antreten wollte, würde er beim Drogentest durchfallen.« Eine Feststellung wie diese, geäußert von einem mäßig erfolgreichen Schriftsteller, ist nicht ganz ohne Komik. Vor allem, wenn man weiß, dass der so daherredende Schriftsteller selbst eine fiktionale Figur in einer Short Story ist. Geschrieben hat diese wiederum der britische Romancier Julian Barnes.
Barnes ist - das weiß man von seinen Romanen, deren Figuren er nicht selten Äußerungen wie die eingangs zitierte in den Mund legt - ein Großmeister des elegant-geistvollen Geplauders. Was alles andere als abschätzig gemeint ist. »Geistvoll« dürfte womöglich das im Zusammenhang mit ihm am meisten gebrauchte Adjektiv sein. In seinem neuen Buch »Am Fenster« verhandelt er, sieht man von der oben erwähnten Short Story ab, in 17 Essays Fragen der Literatur, streift also das Schaffen einzelner Schriftsteller und Schriftstellerinnen, deren Werk ihm am Herzen liegt. Allerdings geht es durchaus nicht um literaturtheoretische oder -historische Detailfragen, sondern, anhand der Beschäftigung mit diversen Werken und an Passagen aus diesen dargelegt, um zentrale Fragen des menschlichen Daseins: Was können uns Romane über das Leben lehren? Wie viel »Wahrheit« steckt in ihnen? Wie lebt man richtig? Wie trauert man richtig?
Auch werden nicht nur Blicke auf die Erzählprosa so bekannter Künstler wie Gustave Flaubert, Rudyard Kipling und John Updike geworfen, sondern etwa auch einer auf den vergessenen englischen Dichter Arthur Hugh Clough, in dessen in der viktorianischen Epoche entstandener Lyrik Barnes erstmals »Ehrlichkeit und Sarkasmus« statt der in jener Zeit erwünschten Gedichteigenschaften »Artigkeit und Takt« entdeckt, oder einer auf den dauernörgelnden, intellektuellenfeindlichen und homophoben »Moralisten und Puritaner« George Orwell, demzufolge gute Prosa »wie eine Fensterscheibe« zu sein hatte.
Liest man einen Julian-Barnes-Text, ob nun Prosa oder Besinnungsaufsatz, weht einen unwillkürlich eine starke Brise Britishness an. Es zeigt sich ein Kenntnisreichtum, der sich niemals protzig gibt, und eine angenehme zurückhaltende Freundlichkeit, die man, zumindest in Barnes’ Fall, keinesfalls mit Steifheit und Spießertum verwechseln darf. Sein Stil ist stets leichtfüßig, feinsinnig, gelassen. Selbst die scharfen Urteile (über den ein stark simplifiziertes, fast mechanistisches Literaturverständnis besitzenden George Orwell: »Nirgends ist er dogmatischer als in seiner Einstellung zum Schreiben: wozu es da ist, wie man es betreiben sollte und wer es schlecht macht«) und die ironischen Seitenhiebe (über einen Satz der unerträglich produktiven US-amerikanischen Schriftstellerin Joyce Carol Oates: »Dieser Satz ist wohl der erste in der Weltliteratur, in dem die Ansicht vertreten wird, man könne zu einer Oase paddeln«) sind so bedächtig und formschön formuliert, dass das letzte, das man als Leser bei der Lektüre mitdenkt, ein Ausrufezeichen ist. Barnes ist nie plump, laut, taktlos, insistierend. Und die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit literarischen Texten, also die hier vorliegenden Aufsätze, erschöpfen sich nie in Lebenshilfe oder in rein anekdotischem Geplapper.
Das Schönste aber ist, dass Barnes' Gelehrsamkeit und sein profundes Wissen über Kunst, Literatur und Geschichte nie belehrend oder den Leser einschüchternd daherkommt. Barnes, der aus einem Lehrerhaushalt stammt, liebt Bücher. Und das Erzählen. »Lesen ist eine Fähigkeit, die viele haben, aber eine Kunst, die nur wenige beherrschen.« Glückskeksweisheiten wie diese schüttelt Barnes im Dutzend aus dem Ärmel. Das mag dem einen oder anderen bisweilen zu betulich klingen, und womöglich ist es das auch, aber dafür entschädigt uns der Autor an anderer Stelle. Über den offenbar alles Raffinierte ablehnenden Genussfeind Orwell heißt es etwa: »Er hat eine Abneigung gegen ausländisches Essen und meint, die Franzosen verstünden nichts vom Kochen; in Marokko lässt ihn der Anblick einer Gazelle von Minzsoße träumen.«
Barnes weiß viel, wie gesagt, besonders viel über Schriftsteller, die er schätzt. Und er besitzt die selten gewordene Fähigkeit, dieses Wissen anderen nicht im totgeborenen Eingeweihtenjargon bzw. im Fachchinesisch des ebenso spleenigen wie bräsigen Literaturwissenschaftsonkels mitzuteilen. Barnes scheint zu wissen, dass man Menschen, die sich für das Erzählen interessieren (Wie geht das? Warum tut man das? Was haben wir davon?), nur erzählend etwas davon mitteilen bzw. erzählen kann. Weswegen er auch in seinen Abhandlungen und Traktaten, bei denen man annehmen könnte, der Ton müsse hier spröder, ernster, sachlicher sein, nie mit dem Erzählen anrührender und komischer Geschichten spart.
So berichtet er uns etwa unter anderem, wie er sich als Jugendlicher einst an der umfangreichen elterlichen Bibliothek zu schaffen machte, wo er, auf der verzweifelten Suche nach irgendetwas annähernd Pornographischem oder wenigstens halbwegs Deftigem, im Buchbestand des älteren Bruders »das mit Abstand heißeste« im Elternhaus befindliche Werk entdeckt habe: das »Satyricon« von Petronius. »Doof wie ich war, nahm ich an, all seine Klassikerausgaben seien ähnlich erotischen Inhalts. Ich verbrachte deshalb viele öde Tage mit seinem Hesiod, bis ich herausfand, dass dem nicht so war.« Tatsächlich dürften Hesiods Entwürfe einer straffen Arbeitsethik und seine Ermahnungen zu sittlichem Verhalten nicht unbedingt die Art Antikenporno gewesen sein, die der junge Barnes sich damals erhofft hatte.
Der erwachsene, vor ca. einem Monat 70 Jahre alt gewordene Schriftsteller Barnes zeigt in seinen Aufsätzen manchmal ein erstaunlich fortschrittliches, manchmal aber auch ein allzu traditionelles Literaturverständnis: Dem Franzosen Michel Houellebecq wirft er zwar zu Recht schlampige Romankonstruktion und sprachliche Ungenauigkeit vor und moniert, dass ein Houellebecq-Roman offenbar »mehr von Meinungen und Provokationen lebt als von durchdachtem Erzählen«, scheint dabei aber vollständig zu übersehen, dass in unserer Gegenwart sich ein Roman nicht mehr zwingend lesen muss wie der »Zauberberg« oder »Effi Briest«.
Bei der Lektüre seines Vergleichs der verschiedenen englischsprachigen Übersetzungen von Flauberts »Madame Bovary« hingegen kann man viel über die sträflich unterschätzte Kunst des Übersetzens, über sprachliche Präzision lernen und darüber, was diese mit Obsession und mit dem Verlangen nach literarischer Perfektion zu tun hat. Flaubert »hat gesagt, Prosa sei wie Haar: Stetes Kämmen bringt Glanz hinein.«
Irgendwann lernt man sogar Barnes’ romantische Kalenderweisheiten lieben (»Wer ein großartiges Buch liest, flüchtet nicht vor dem Leben, sondern taucht tiefer ins Leben ein«), von denen man die eine oder andere manchmal gern auswendig lernen möchte, um sie bei Bedarf am Kneipentisch wieder hervorzuholen (»Literatur lässt Figuren, die es nie gegeben hat, so real sein wie gute Freunde und tote Schriftsteller so lebendig wie einen Nachrichtensprecher im Fernsehen.« Wobei sich hier zu Recht einwenden ließe, dass heute die meisten Nachrichtensprecher im Fernsehen nicht sehr lebendig aussehen.)
Und man freut sich mit ihm, wenn er hofft, dass es bei E-Books künftig auch eine »Geruchsfunktion« geben wird, »damit der Dickens-Roman, den man gerade liest, plötzlich nach feuchtem Papier, Stockflecken und Nikotin riecht«. Vorausgesetzt natürlich, irgendwer liest in der Zukunft noch Romane von Charles Dickens. Welche ich selbstverständlich jetzt, nachdem ich Barnes’ vergnügliche, lehrreiche Essaysammlung gelesen habe, jederzeit denen von Joyce Carol Oates vorziehen würde.
Julian Barnes: »Am Fenster«. Siebzehn Essays über Literatur und eine Short Story. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Thomas Bodmer, Alexander Brock und Peter Kleinhempel. Kiepenheuer & Witsch, 352 S., 21,99 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.