Libyen wieder im Fadenkreuz der NATO

Mit dem Sturz Gaddafis kollabierten auch die von ihm eingeführten Strukturen - bislang ohne Ersatz

  • Mirco Keilberth, Tripolis
  • Lesedauer: 4 Min.
Alles begann damit, dass Bürger Bengasis auf die Straße gingen, um gegen die nach ihrer Ansicht willkürliche Inhaftierung eines Anwalts zu demonstrieren.

Der Bürgerrechtler und Rechtsanwalt Fathi Terbil hatte am 15. Februar 2011 Aufklärung über das Schicksal von 1600 Personen verlangt, die »verschwunden« waren. Es handelte sich großenteils um Mitglieder der sogenannten Libyschen Islamischen Kampfgruppe, die 1996 nach einer missglückte Revolte im Gefängnis von Bengasi, der zweitgrößten Stadt des Landes, vermutlich umgebracht worden waren. Es waren Islamisten, die Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi 1996 heimlich hatte töten lassen.

Unter dem Eindruck der Umstürze in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten wurde aus dem Protest weniger Intellektueller diesmal binnen 48 Stunden ein Massenprotest mit unterschiedlichsten Forderungen. Revolutionsführer Gaddafi setzte daraufhin Panzer gen Bengasi in Marsch. Mit einer auf absehbare Zeit wohl kaum wiederkehrenden Einigkeit beschloss der UN-Sicherheitsrat am 15. März mit der Resolution 1973 eine Militäreinsatz zum Schutz von Zivilisten in ganz Libyen. Als die Militärkolonne am Westtor von Libyens zweitgrößter Stadt eintraf, griffen französische Kampfjets ein. Heute, fünf Jahre später, kreisen wieder französische und britische Jets am Himmel über Bengasi. Wieder machen sich Spezialkommandos Frankreichs, Italiens und der USA bereit, libysche Zivilisten vor bewaffneten Verbänden zu schützen.

Dass ausgerechnet ehemalige »Revolutionäre« von 2011 und Islamisten, für deren Rechte sich die liberalen Bürger damals eingesetzt hatten, ihr Gesellschaftsmodell in Bengasi mit Gewalt durchsetzen wollen, löst Zorn aus. Wie viele andere ist der ehemalige Aktivist Taufik Mansoury aber auch von Westeuropa enttäuscht. Die EU habe Libyen »den angeblich moderaten Islamisten überlassen«. »Wir haben keine Zeit für Klagen, seit der Tötung von über 500 Polizisten und Soldaten kämpft Bengasi um sein Überleben«, sagt Bürgermeister Tarek Awadh Belkacem al-Arfi.

Seit einem Jahr ist das Szenario, gegen das die »Freunde Libyens«, die westliche Militärallianz, angetreten war, Realität geworden: über 400 000 Flüchtlinge; ständige Kämpfe zwischen der libyschen Armee und Banden, die sich zum Islamischen Staat (IS) bekennen; der Kollaps der Wirtschaft und der Ölförderung.

Und das könnte erst der Anfang sein. Denn viele der aus Syrien einsickernden IS-Kommandeure haben offenbar vor, sich Afrikas bedeutendste Ölvorräte unter den Nagel zu reißen, und rücken von ihren Trainingslagern in Sabrata und Sirte an der Küste bis zur nigrischen und sudanesischen Grenze vor. Dort werden Migranten mittlerweile auf offener Straße angeworben.

Sollte der von dem deutschen Diplomaten Martin Kobler vorangetriebene UN-Friedensplan scheitern, droht die Abspaltung der an Ägypten grenzenden Cyreneika-Provinz, in der 80 Prozent des Öls Libyens liegen. In der marokkanischen Stadt Skhirat haben sich die dort anwesenden Vertreter der libyschen Konfliktparteien auf Fayez al-Sarradj als künftigen Premierminister geeinigt. Bis jetzt aber kann er sein Amt nicht antreten.

»Neben Vertrauen in die zentralistischen, jetzt von Islamisten besetzten Strukturen in Tripolis fehlt ein Konzept für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die jungen Leute in den Milizen hätten ohne ihre Zugehörigkeit zu einer der bewaffneten Gruppierungen, von denen es Hunderte gibt, keine Chance auf irgendein reguläres Einkommen«, so Mansoury. Die Dschihadisten-Netzwerke nutzen das Chaos Libyens, um heimlich junge Algerier, Tunesier oder Ägypter in Trainingscamps bei Ghat, Sabrata und in Sirte auszubilden. Mansoury und Terbil haben sich aus der Öffentlichkeit zurück gezogen, nachdem sie erlebten, dass die internationale Diplomatie nach den Parlamentswahlen von 2012 für sie als unter Lebensgefahr arbeitende Bürgerrechtler kaum mehr als aufmunternde Worte übrig hatte.

Wie gefährlich Libyens Machtvakuum ist, hat man nun auch bei der NATO verstanden. Die Teilnehmer einer Anti-IS-Konferenz in Rom warnten vor mehr als 5000 Kämpfern, die laut US-Außenminister John Kerry in Libyen ein »Kalifat mit millionenschweren Öleinkünften gründen wollen«. Jetzt sollen bis zu 5000 italienische und 1000 britische Militärausbilder zusammen mit von der Zivigesellschaft gefürchteten Milizen wie denen von Abdulrauf Kara eine Art Grüne Zone wie in Bagdad herstellen und sie vor Terroranschlägen schützen. Weitere Trupps sollen im Land stationiert werden. Einzelne Kommandotrupps sind bereits vor Ort auf der Suche nach zuverlässigen Partnern.

Bürger wie Mansoury hoffen hingegen, dass EU und UN massiv beim Staatsaufbau helfen: »Die Mehrheit der Libyer wünscht sich einen Rechtsstaat mit Armee und Polizei, keine Verlängerung der Milizenwillkür.«

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