Bei den Pfingstlern
Martin Leidenfrost über osteuropäische Familien, das norwegische Jugendamt und die Angst vor religiöser Indoktrination
Während in Westeuropa viele noch nie von ihm gehört haben, fürchtet ihn Osteuropa schlotternd - den schwarzen Mann unserer Tage, das norwegische Jugendamt »Barnevernet«. Nachdem das Amt einigen Einwandererfamilien aus Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei und vor allem Russland die Kinder weggenommen hatte, traf es Ende 2015 alle fünf Kinder der rumänischen Familie Bodnariu.
Auch in diesem Fall ist die Begründung schwer begreiflich. Medizinisch wurden keine Spuren von Misshandlung festgestellt, im rumänischen Krawallsender Antena 3 gaben die Bodnarius aber zu, dass ihnen schon mal die Hand auskommt. Die größte internationale Empörung löste ein aus dem Barnevernet-Bericht lanciertes Zitat aus, wonach die Kinder vor »religiöser Indoktrinierung« zu schützen seien.
Die Bodnarius gehören der christlichen Pfingstbewegung an. Pfingstler machen global etwa ein Zehntel der Christenheit aus, mit 200 Millionen Gläubigen in Ländern wie den USA, Nigeria, Kenia, Brasilien. Ich besuche die rumänischen Pfingstler in Oslo.
Ich bin zum ersten Mal in Norwegen. In der humanitären Großmacht, in einem der reichsten Länder der Welt, in der Nr. 1 auf dem »Human Development Index«. Spät und lang graut der Morgen, um früh und lang in den Abend hineinzudämmern. Einen Katzensprung hinter dem Regierungshochhaus, das seit dem Terroranschlag von Anders Breivik als unbenutztes Mahnmal dasteht, finde ich die »Kirche der Hoffnung«.
Sie hält ihren Gottesdienst in einem gewöhnlichen Bau, im verborgenen Sakralraum der norwegischen Adventisten. Die Adventisten begehen den Sabbat und vermieten sonntags an die rumänischen Pfingstler.
Der Gottesdienst der Christen, die sich als »neoprotestantisch« bezeichnen, ist unorganisiert locker. Der hohe holzgetäfelte Saal, der mit seinem großen goldleuchtenden Luster eine verschwörerische Atmosphäre entfaltet, füllt sich nur langsam. Arbeitende Mittelschicht in den besten Jahren, einige Roma, gemischte Beziehungen auch. Oft gehen Mütter mit den Kindern hinaus, aber auch im Saal tollen kleine Kinder neckisch »Mama« schreiend herum. Das stört niemanden.
Ich beobachte gespannt einen Jungen, der neben seinem fett-gegelten Vater einen Plastikbecher zerlegt, laut und lästig. Wenn hier einer prügelt, denke ich, dann bestimmt dieser gemein dreinschauende Vater. Nichts aber, nur Ermahnungen, der Junge macht weiter.
Sie singen viele moderne rhythmische Lieder mit harmlosen Texten, die wenig Neues zum Lobpreis des Herrn beitragen; »ohne Dich bin ich Staub im Wind« ist schon das stärkste Bild. Die zahlreichen Predigten sind oft in hoher Tonlage gehalten, mal seufzend leis heruntergeflüstert, dann wieder rufend laut hinaufgestöhnt.
Laienprediger »Bruder Samuel« lässt für die Familie Bodnariu sammeln und ruft mehrmals in einem staunend-trotzig-bekräftigenden Ton aus: »Wir leben in diesem Land!«
Fremd ist mir vor allem das »Zungenreden«. Um unmittelbar die Ausgießung des Heiligen Geistes zu erfahren, sprechen die Gläubigen gleichzeitig frei formulierte Gebete. Viele murmeln unhörbar, einige wenige wehklagen, ein paar raunen beschwörend.
Zwei Stunden später ist endlich Pfarrcafé. »Bruder Florin«, der zweite Laienprediger, hält fest, dass es »nicht gut« sei, Kinder zu schlagen. Er fügt mit leiser Eindringlichkeit hinzu: »Wenn norwegische Kinder zu Besuch sind, spreche ich nun das Tischgebet nicht mehr. Ich will nicht der religiösen Indoktrinierung bezichtigt werden.«
Bruder Samuel hat Frau und Kinder bereits nach Rumänien evakuiert, er selbst ist nur noch zur Abwicklung des norwegischen Wohnkredits da. Viele rumänische Pfingstler seien wegen dem Fall Bodnariu bereits aus Norwegen geflohen, höre ich, drei Familien aus Oslo, zehn Familien aus der Region Bergen. »In Norwegen erziehen nicht mehr Eltern ihre Kinder, sondern umgekehrt«, sagt Bruder Samuel, »Norwegern ist Wohlstand zur Droge geworden. Rumänien hat mehr Kultur und Tradition.«
Vertreter der norwegischen Pfingstbewegung erklärten öffentlich, keine religiöse Verfolgung in Norwegen zu erkennen, die rumänischen Pfingstler fühlen sich jedoch verfolgt. Als nächstes gehe ich zum norwegischen Jugendamt.
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