Jamala sorgt für Wirbel
Die ESC-Kandidatin der Ukraine will ein Lied über die Vertreibung der Krimtataren singen
Bei der Eurovision kann Jamala die Welt an die Verbrechen gegen das krimtatarische Volk erinnern. Schicken Sie ›4‹ auf die Nummer 7766«, schrieb kein geringerer als Swjatoslaw Zegolko, Pressesprecher des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, am vergangenen Sonntagabend auf Twitter. Allein das zeigt die politische Bedeutung, die für Kiew der Auftritt von Susana Dschamalidinowa alias Jamala beim Eurovision Song Contest im schwedischen Stockholm haben könnte. Die 32-jährige Sängerin mit krimtatarischer Herkunft entschied am Sonntag die nationale Vorrunde für sich - mit einem Lied, das mit Sicherheit polarisieren wird.
»1944« heißt das von Jamala selbst komponierte Stück, das von der Vertreibung der Krimtataren während der Stalin-Ära erzählt. »Das ist aber nicht nur die Geschichte der Krimtataren - und das Lied hat eigentlich nicht viel mit der Politik an sich zu tun. Dies ist vor allem eine persönliche Geschichte. Die Geschichte meiner Familie, meiner Urgroßmutter, die unter der Deportation gelitten hat«, erzählt Jamala. Wie viele andere Krimtataren wurde die Jazzsängerin in Zentralasien, in Kirgisistan, geboren. Ein paar Jahre nach der Geburt durfte ihre Familie auf die Krim zurückkehren.
2011 versuchte Jamala schon einmal erfolglos, sich für die Teilnahme am ESC zu qualifizieren - damals mit einem unpolitischen Lied: »Smile«. 2016 hat Jamals Bewerbung völlig andere Vorzeichen. Seit dem Beginn der politischen Unruhen in der Ukraine positionierte sich die Sängerin klar und sang unter anderem auch auf dem Maidan in Kiew. Die Annexion der Krim verurteilt Jamala öffentlich - und hat Angst, weil ihre Eltern immer noch auf der Halbinsel leben. »Alles, was ich hier in Kiew sage, könnte irgendwie gegen sie verwertet werden«, sagt Dschamalidinowa. Die politische Haltung der Sängerin machte sie zur Favoritin auf die Reise nach Stockholm.
Auch wenn Jamala selbst betont, dass »1944« im Grunde genommen kein politisches Lied ist, wurde aus ihrer potenziellen Teilnahme schon längst vor dem nationalen Vorentscheid eine spannende Debatte. Denn eigentlich verbieten die Regeln der Eurovision politische Beiträge. Nun müssen die ESC-Organisatoren darüber entscheiden, ob Jamalas Lied tatsächlich gegen die Regeln verstößt. »Wir werden jeden Beitrag ausführlich prüfen. Wenn etwas nicht passt, können wir vorschlagen, das Lied vor dem 14. März entsprechend zu ändern«, hieß es in einem Statement der Europäischen Rundfunkunion EBU.
Der ukrainische Vorentscheid stand im Zeichen der politischen Debatte. So geriet SunSay, eine erfolgreiche Band aus Charkiw um Frontmann Andrij Saporoschez, unter heftige Kritik, weil sie ein Konzert auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim spielte. Außerdem wurde Saporoschez stets vorgeworfen, nicht patriotisch genug zu sein. »Meine Position unterscheidet sich von der, die viele andere Menschen in der Ukraine teilen. Aber ich komme aus Charkiw, ich spreche Russisch und spiele mit russischen Musikern«, konterte Saporoschez, der sich als »apolitisch« bezeichnet, die Vorwürfe. Am Ende lag SunSay auf dem dritten Rang. Es ist gut möglich, dass die Band aus Charkiw mit dem Lied »Love Manifest« deutlich mehr erreichen könnte, hätte die Politik eine geringere Rolle bei der Entscheidung gespielt.
Doch auch die Gewinnerin Jamala muss sich nun Gedanken machen, wie es weitergeht. Das Geld für eine ESC-Teilnahme hat sie eigentlich nicht. »Eine meiner Vorgängerinnen, Swetlana Loboda, hat ihre Wohnung verkauft, um die Teilnahme zu finanzieren. Ich habe aber nichts zu verkaufen, weil ich meine Wohnung miete«, erzählt Dschamalidinowa, die auf staatliche Hilfe hofft. »Ich werde für die Ukraine auftreten - und nicht für mich selbst. Deswegen hoffe ich sehr, dass der Staat mir hilft«, sagt die 32-jährige Sängerin.
Für den langjährigen Anführer der krimtatarischen Medschlis, Mustafa Dschemilew, der im ukrainischen Exil lebt, ist der Erfolg von Jamala ein Zeichen für das krimtatarische Volk: »Es ist der Sieg! Das Lied ›1944‹ wird in der ganzen Welt bekannt. Die Ukraine ist auf dem richtigen Weg.« Auf der Krim wird die ESC-Teilnahme jedoch eher kritisch gesehen - und auch die Abgeordneten der russischen Staatsduma zeigen ihre Unzufriedenheit mit dem ukrainischen Beitrag öffentlich. Jamala wird in den nächsten Monaten noch oft für politischen Wirbel sorgen - egal, ob sie das will oder nicht.
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