Tiefschläge und Tiefpunkte
Die deutsche Debatte - ein Wettstreit um Verbalinjurien
Wir sind das Volk. Wir schaffen das. Die größten Verheißungen beginnen oft mit dem vereinnahmenden WIR. Es ist zugleich die anmaßende Vokabel des Absolutismus, der den Pluralis Majestatis prägte, obwohl den nicht einmal der alttestamentarische Gott benutzte. Bemerkte doch dieser zu Mose am brennenden Dornbusch schlicht: »Ich bin, der ich bin.« Sonnenkönig Ludwig XIV., die Inkarnation des Absolutismus schlechthin, war nur in einem Fall nicht bereit, durch den Gebrauch des möglicherweise missverständlichen Pluralpronomens Illusionen zu befördern: L’état c’est moi! Der Staat bin ICH!
Ob Angela Merkel als Kreatorin des »Demokratischen Absolutismus« in die politische Ideengeschichte eingehen wird, ist Spekulation. Aber dass sie mit dem profanen Satz »Wir schaffen das«, der etatistischen Elan, emotionale Eloquenz und - unausgesprochen - das zivilreligiös sakralisierte Diktum »Wir sind das Volk« kombiniert, einen propagandistischen Volltreffer landete, dürfte außer Frage stehen. Das Große WIR als Garant eines gesellschaftlichen Großprojekts, das - so die Suggestion - nicht nur notwendig und unabwendbar, mithin alternativlos ist, sondern auch machbar, schaffbar, bereichernd, gut und günstig.
Ein wesentliches Ziel politischer Propaganda ist es, »Volk« und »Wir« zur Kongruenz zu bringen. Doch was Diktaturen mittels ihrer Instrumente zu einer zumindest trivial-plakativen Einheit zusammenschustern können, ist Demokratien schlechterdings unmöglich. Merkels Migrationskurs stieß von Anfang an nicht nur auf große Zustimmung, sondern auch auf wachsenden Widerstand. In Parteien, in Medien, auf der Straße. Eine gewöhnliche demokratische Reaktion. Legal und legitim.
Zu Widerstand ermutigt und ermächtigt sahen sich aber auch Kräfte, denen gewaltfrei-zivilisierte Gepflogenheiten offenbar ebenso fremd sind wie die Menschen, deren Ansiedlung sie mittels dieser Defizite verhindern wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes »widerlicher« Widerstand. Gleichwohl kein ungewöhnliches Phänomen. Und ein typisch deutsches ohnehin nicht.
Dass ausgerechnet diese Kräfte mit dem Skandieren der Parole »Wir sind das Volk« ihren Hass-Attacken Legitimität zu geben versuchen, mag als »Pervertierung« (Wolfgang Thierse) solch historiengetränkten Rufs oder als »Kampfschrei eines Verbitterungsmilieus« (»Die Zeit«) empfunden werden. Falsch ist der Satz nicht. Natürlich sind die Blockierer von Clausnitz nicht »das« Volk. Aber sie sind »auch« das Volk. Deklassierte, Depravierte, Desintegrierte. Möglicherweise. Gewiss jedoch: Volk.
Wer einen Bus mit Einwanderern belagert und bedrängt oder vor einem brennenden Haus gaffend-affirmativ Freude bekundet, handelt unzweifelhaft moralisch monströs. Aber solchen Bürgern zu bescheinigen, sie seien »Verbrecher« und »keine Menschen«, zeugt von kommunikativer Inkompetenz und politischer Tollheit. Letztere indes hat, was die aktuelle Auseinandersetzung betrifft, längst Methode. Die zitierte Äußerung von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich ist nur die offen artikulierte Bankrotterklärung der Politik, ihrer ureigensten Aufgabe nachzukommen: in der Demokratie zwischen divergierenden und konkurrierenden Kräften zu vermitteln, im »Volk« für Frieden und Ausgleich zu sorgen. Denn Brechts Rat zu folgen, das eigene Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen, ist derzeit wohl kaum eine machbare Alternative.
Als gäbe es einen veritablen Wettbewerb um Verbalinjurien, überbieten sich Politiker, sekundiert von Medien, gegenseitig bei der sprachlichen Überformung ihres Ekels vor dem Teil des Volkes, den sie ja eigentlich nicht haben wollen. Expressis verbis verkündete diese Ansicht Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel im vergangenen Sommer im ostsächsischen Heidenau, wo er mit Bezug auf Randalierer vor Flüchtlingsheimen das Wort vom »Pack« prägte und feststellte: »Ihr gehört nicht zu uns, wir wollen euch nicht ...« Doch, »ihr« gehört zu »uns«, ob »wir« »euch« wollen oder nicht! Zu »uns« gehören auch der »Pöbel-Mob« (Stern) und der »Hass-Mob« (Bild) von Clausnitz und Bautzen. Auch, wenn deren Tun, wie Bundesjustizminister Heiko Maas meint, »an Rohheit und Primitivität nicht zu überbieten« ist. Wenn es doch so wäre. Leider dürfte Maas schwer irren.
Die Dichotomie von Pack und Volk, von Hetze und Herz, von Böse und Gut zielt längst nicht mehr nur auf die Markierung jener Minderheit, die mit offener Gewalt und Gewaltandrohung die von Merkel betriebene Flüchtlingspolitik zum Scheitern bringen will. Zusammen mit der Universalformel von den »geistigen Brandstiftern« dient sie der Ausweitung der Kampfzone, der Stigmatisierung von Personen, Parteien, Bewegungen, die - auch mit moralisch und politisch fragwürdigen Begründungen und Aktionen - aus ihrer Gegnerschaft zur aktuellen Masseneinwanderung kein Hehl machen, aber sich auf demokratisch legalem und legitimem Boden bewegen. Der Staatsrechtler Carl Schmitt, der einst als »Kronjurist des Dritten Reiches« reüssierte, würde seine Einschätzung, dass Politik erst mit einem klaren Feindbild funktioniert, bestens bestätigt sehen. Bürgerkriegsjargon ist wieder hoffähig. Der Soziologe Dieter Rucht sprach im nd-Interview bereits von der linken und der rechten »Seite der Barrikade«.
Petry und Höcke, AfD und Pegida - wer sich in diesen Dunstkreis begibt, sieht sich nicht nur Vorwürfen von »Rassismus« und »Fremdenhass« konfrontiert, sondern auch als ideeller Drahtzieher von Anschlägen und anderen Gewalttaten etikettiert. Generalverdacht und Pauschalbeschuldigung ersetzen die bitter nötige Diskussion um politische Verantwortung. Die von einer antirassistischen Initiative geäußerte Idee, die Ostdeutschen (speziell die Sachsen) endlich mittels Massenansiedlung von Migranten Mores zu lehren, offenbart einen Zynismus, bei dem es nicht mehr um das Wohl von Geflüchteten, sondern um die Disziplinierung von Unbotmäßigen geht.
»Pegida ist ›Pack‹, aber im Wesentlichen ostdeutsches ›Pack‹«, postulierte der Politikwissenschaftler Gerd Mielke von der Universität Mainz im SWR-Interview und präsentierte gleich eine probable Lösung: »konsequente Einschüchterung des ›Packs‹ durch eine konsequente Kriminalisierung« sowie einen »dreistündigen Polizeikessel«. Denn wenn sich »erst alle mal in die Hose gepinkelt haben und abschließend mit Wasserwerfern traktiert wurden, dann haben sie für eine geraume Weile genug vom Demonstrieren«.
Die deutsche Debatte strebt täglich neue Tiefpunkte an. Wenn die politische Kultur zur Disposition steht, wenn die Gesellschaft sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen immer mehr fragmentiert, ist das nicht nur ein intellektuelles Problem. Man muss die Grenze rechtzeitig erkennen, um sie nicht zu überschreiten. Schaffen wir das?
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.