Von Ammoniak bis Zwangsarbeit
100 Jahre Chemiestandort Leuna zeigen Höhen und Tiefen deutscher Industriegeschichte
Die Fackel wirkt fast wie eine ewige Flamme. Tag und Nacht brennt sie in 140 Metern Höhe über den silbern glänzenden und im Dunkeln fantastisch erleuchteten Kesseln, Reaktorbehältern und Rohrschlangen von Leuna. Und tatsächlich gibt es den Chemiestandort südlich von Merseburg schon eine halbe Ewigkeit: Mit einem Festakt feierte der Standort, an dem 9000 Menschen arbeiten, jetzt 100-jähriges Jubiläum. Am 25. Mai 1916 legte das Unternehmen BASF hier den Grundstein für eine Fabrik zur Herstellung von Ammoniak; im Jahr darauf begann die Produktion.
Die Entscheidung für die Region war freilich nicht nur großen Vorräten an Braunkohle in den nahe gelegenen Gruben des Leipziger Reviers geschuldet, die neben Wasser und Kalk als Ausgangsstoff benötigt wurde. Es sei auch um Luftschutz gegangen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel als Festrednerin: Merseburg lag weit weg von der Front im Westen; ohne Angst vor Fliegerangriffen konnte hier mit einem neuen, nach ihren Erfindern Fritz Haber und Carl Bosch benannten Verfahren eine Chemikalie hergestellt werden, die keineswegs nur als Dünger für die Landwirtschaft benötigt wurde. Sie war auch Ausgangsstoff für Salpetersäure, ohne die wiederum nicht genug Munition für mörderische Schlachten wie jener vor Verdun zur Verfügung gestanden hätte.
Nein, mit ungetrübter Feierseligkeit war zum Jubiläum in Leuna nicht zu rechnen. Natürlich werden zu dem denkwürdigen Anlass in der Chemiestadt am liebsten Geschichten erzählt, die von Genialität und Erfindergeist handeln. Darunter die von der erstmals gelungenen Synthese eines Stoffs namens Caprolactam, aus dem Perlon-Synthesefasern für Damenstrumpfhosen hergestellt werden. Zu den Vorzeigewissenschaftlern zählt neben Haber und Bosch auch Matthias Pier, dem es gelang, ein Hochdruckverfahren zur Herstellung von Methanol zu entwickeln. In Leuna wurden synthetische Tenside für Waschmittel produziert und Benzin - zunächst aus Kohle, später aus Erdöl.
Es waren Erfindungen und Entwicklungen, die den Charakter der als »Chemiedreieck« bekannt gewordenen Region seither prägten. Doch neben den Höhen zeigen sich in Leuna auch die Tiefen deutscher Industriegeschichte, sagt Merkel. In der NS-Zeit waren Betriebe wie Leuna entscheidend für die Bemühungen des Regimes, sich von ausländischen Rohstoffen unabhängig zu machen. Um die Produktion auch zu Kriegszeiten aufrecht erhalten zu können, wurden Zigtausende Zwangsarbeiter eingesetzt, die in vier Großlagern untergebracht waren; viele wurden zu Tode geschunden. In der offiziellen Chronologie zum Firmenjubiläum wird das Kapitel nicht erwähnt; auch die Festreden sparten es weitgehend aus. Merkel sagte indes, es »bleibt unsere Pflicht, daran zu erinnern«.
Landespolitiker und heutige Betreiber lenken das Augenmerk lieber auf die kritische Zeit nach dem Ende der DDR. Man habe damals glauben können, es sei »vorbei mit der Chemie«, sagt Reiner Haseloff, der CDU-Regierungschef. Zum einen waren viele Anlagen im »VEB Leuna-Werke Walter Ulbricht« marode; es gab einen enormen Rückstau bei Investitionen. Zum anderen habe im Westen des Landes die Meinung geherrscht, »das bisschen Chemie können wir mitproduzieren«, erinnert sich Michael Vassiliadis, Chef der Chemiegewerkschaft IG BCE, und verweist auf »viele Zweifler und viele kühle Rechner«. Gerettet worden sei der Standort erst durch ein »sehr klares politisches Bekenntnis von Helmut Kohl«, sagt dessen Nach-Nachfolgerin Merkel.
Der mit Hilfe des CDU-Kanzlers vorangetriebene Neubau einer Raffinerie sicherte dem Standort zweifellos das Überleben. Die heute vom Total-Konzern betriebene Anlage mit 630 Beschäftigten ist das Herzstück eines Chemieparks, in dem insgesamt über 100 Unternehmen ansässig sind. Es gebe »9000 gut bezahlte Arbeitnehmer«, sagt Vassiliadis, der freilich auch daran erinnert, »dass es einmal 28 000 waren«. Die Zerschlagung der DDR-Chemiebetriebe nennt er »eine der härtesten Phasen von Restrukturierung in der deutschen Industriegeschichte«. Zwar sei sie dank der Mitwirkung von Gewerkschaften und der Belegschaftsvertreter sozial verträglich abgewickelt worden; zugleich habe es aber »viele Enttäuschungen« gegeben, so der Gewerkschaftschef.
Heute steht der Chemiestandort Leuna solide da - dank Investitionen von sechs Milliarden Euro in 25 Jahren, aber auch wegen eines Modells, das hier entwickelt wurde und inzwischen bundesweit kopiert wird: Auf dem 1300 Hektar großen Areal kann die von einer Betreibergesellschaft zur Verfügung gestellte Infrastruktur von allen Unternehmen gemeinsam genutzt werden. Ansässig sind Firmen aus zehn Ländern, sagt Christof Günther, Geschäftsführer der InfraLeuna GmbH, der beim Festakt auch auf eine besondere Wendung der Geschichte hinwies. Zu den ersten Großinvestoren nach 1990 hätten der Chemiefaserproduzent domo sowie der Mineralölkonzern Elf gehört - Firmen, die aus Belgien und Frankreich kommen. Es sind genau die Länder, die vor 100 Jahren mit der dank Leuna fabrizierten Munition angegriffen wurden: »Aus dem einstigen Feindbild«, sagt Günther, »ist eine enge Partnerschaft geworden.«
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