Bratislava lockt
Bald sind wieder Schulferien. Wir müssen irgendwo hin, raus aus Berlin, wollen aber nicht ans monokulturelle Mittelmeer, wo wir kaum noch wissen, ob wir auf Malta oder Mallorca sind, und zu kalt ist es dort sowieso. Wir wollen Städtetouristen sein und werden eine neunstündige Zugfahrt nach Bratislava auf uns nehmen.
Neun Stunden im Zug sind kein Problem, die brauchen wir auch, wenn wir mit der S-Bahn zum Flughafen fahren, um dort zwei Stunden abzuhängen, bevor der ebenso lange Flug nach Wien startet, wo wir umherirren, zum Bahnhof mit den Zügen oder der Anlegestelle mit dem Schnellboot, um von dort aus anderthalb Stunden nach Bratislava City zu kommen; um dort wiederum mit dem Taxi zum Hotel zu gelangen. Endlich da, nach nur neun Stunden.
Von Berlin nach Bratislava fliegt nichts, jedenfalls nichts, was mit dem Schmuseticket der Bahn mithält. Hat auch was, mal mit dem Zug durch die sächsische Schweiz und das persische Tschechien zu rollen. Die Bahncard will auch nicht umsonst gekauft worden sein, bloß weil ich alljährlich vergesse, einen Monat vor dem Ablauf der aktuellen den stillschweigenden Kauf der überflüssigen neuen zu widerrufen.
Im Bummelzug nach Bratislava können wir Schiffe versenken, Großbaustellen sprengen, und die Mitreisenden nerven, indem wir uns die Koordinaten zuwerfen: »A8?« - »Nix! B5?« - »Nix. D4 …?« Bum! Altes Spiel, noch aus der Zeit, wo die Eisenbahn ratterte und schepperte. Heutzutage ist eine Zugfahrt eher ein lautloses Gleiten und leises Summen. Andere Reisende quatschen kaum, sie hantierten an den Computern herum.
Wir wollen nach Bratislava, obwohl mir zu der Stadt nur einfällt, dass es dort vor vielen Jahren einen internationalen Schlagerpopwettbewerb gab. Den habe ich nie verfolgt, denn im Berliner Rundfunk wurden oft genug die Sieger von dort gespielt, ich wollte nicht auch noch die Verlierer hören. Eigentlich Unsinn, denn in unseren Hitparaden gefallen mir oft die Verlierer besser.
Unser Hotel versprüht den Charme eines FDGB-Heims, soviel hat mir mein Kundschafter schon verraten. Wird spannend in der slowakischen Hauptstadt, in der wir uns die Tatra im Fernsehen ansehen, auf einem Kanal, der jeden Tag Impressionen aus dem Landesinneren zeigt; so wie es bei uns ein drittes Programm mit den S-Bahnstrecken tat. Rund um Bratislava legte die Natur prima vor: Wasser und Wald, Essen und Trinken, Berge und Ebenen. Im Zentrum thront die mittelalterliche Burg auf einem Berg, allerdings wurde sie weiß angetüncht, entsprechend einer internationalen Mode; denn im altehrwürdigen Europa soll es scheinbar überall so aussehen wie in Neuschwanstein, obwohl zum Beispiel die Wartburg über Jahrhunderte total grau war. Na, die Hauptsache ist, unser Fernsehturm wird nicht geweißt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.