Das Straßburger Schießen
Die Reform der Entsenderichtlinie ist ein Lehrstück des Neoliberalismus in der EU
Als Jean-Claude Juncker 2014 EU-Kommissionspräsident wurde, stand er unter Druck. Gerade war die Lux-Leaks-Affäre aufgekommen und die Frage stand im Raum, ob der langjährige Regierungschef eines Kleinstaates, der seine Nachbarn durch gewitzte Steuerkonstruktionen um Abermilliarden gebracht hatte, der richtige Mann sei. Teil seiner folgenden Charmeoffensive war eine Ankündigung, die Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Linke überraschte: Er werde sich für das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort« einsetzen, also dem Lohndumping entgegentreten, das mit der grenzüberschreitenden Wirtschaft verbunden ist, solange Wettbewerber aus relativen Billigländern nicht klar an die Bedingungen am Erbringungsort gebunden sind.
Dann war nichts mehr zu hören - bis vor wenigen Tagen, als sich die Parteigänger eines sozialeren Europa erneut überrascht sahen: Aus der Verbesserung der einschlägigen Entsenderichtlinie war in den Mühlen von Lobbyismus und Bürokratie eine Verschlechterung geworden - auch wenn Medien fälschlicherweise den Spin der Kommission übernahmen, es handle sich um eine Sozialmaßnahme. Statt von »gleichem Lohn« war nun von einem Lohnniveau die Rede, das »für den Schutz der Arbeitnehmer notwendig ist«. Eine Gummiformulierung, die womöglich gar eine Handhabe gegen Mindestlöhne geboten hätte. Statt Junckers Versprechen umzusetzen, hielt Kommissarin Marianne Thyssen ein neues Stöckchen hin.
Gewerkschafter und Linke protestierten erwartungsgemäß. Und nun sehr flexibel griff die Kommission diese Einsprüche auf. Jetzt steht im Entwurf, aus dem EU-Ausland entsandte Beschäftigte müssten nach Maßgabe gesetzlicher Mindestlöhne und sanktionierter - also für allgemein verbindlich erklärter - Tarifverträge bezahlt werden. Für Deutschland, wo die komplizierte Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) eines kollektiven Lohnvertrags kaum noch vorkommt, bedeutet das letztlich, dass ausländische Anbieter auch dort, wo es noch Tarifverträge gibt, lediglich auf den gesetzlichen Mindestlohn verpflichtet sind. Der Druck auf das Tarifsystem bleibt - zumal diese Verpflichtung erst nach einer Einsatzdauer von 24 Monaten greifen soll, die selten erreicht wird und leicht zu umgehen ist. Unter dem Strich, so der LINKE-Politiker Thomas Händel, der im Europaparlament dem Ausschuss für Beschäftigung und Soziales vorsitzt, bringt der Entwurf »keinerlei Verbesserungen«; die linken Kräfte in der EU können sich allenfalls zugute halten, Verschlechterungen verhindert zu haben.
Speziell sind auch die Umstände, unter denen der Entwurf entstand. In einem bemerkenswert intransparenten Verfahren wurden die Gewerkschaften nicht angehört. Für die SPD-Europapolitikerin Jutta Steinruck ist das eine »Vorgehensweise«, die »mit der stärkeren sozialen Agenda«, die Juncker »versprochen hat«, kaum zu vereinbaren sei. Zudem wurde die Endfassung erst veröffentlicht, als das Parlament schon tagte - für Händel »eigentlich unglaublich«. Nun können linke und eher linke Abgeordnete im Beschäftigungs- und Sozialausschuss Änderungswünsche formulieren; abgestimmt wird der Entwurf voraussichtlich im Herbst.
Die Kommission habe »Lohn- und Sozialdumping noch immer nicht ganz verstanden«, bilanziert die EU-Delegationsleiterin der österreichischen Sozialdemokratie. Damit hat Evelyn Regner unrecht: Die Kommission weiß, was sie tut. Bis hierher zeigt die Reform den Modus Operandi des Brüsseler Neoliberalismus im Verteidigungsfall: Soziale Anliegen werden scheinbar aufgegriffen und in intransparenten Runden in Papiere gegossen, in denen nicht drin ist, was draufsteht - die aber Pflöcke einschlagen für den parlamentarischen Prozess. Die Kritiker müssen sich in diesem Ritual des Straßburger Schießens dann mühen, um zu verteidigen, was es schon vorher gab - was Teilen eben des Kritisierten am Ende neue Legitimität verleiht.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.