Nobodys als neues Normalmaß
Hessens Kommunalwahlen waren nicht nur ein Rechtsruck
Auch nach drei Tagen stand am Mittwoch bei Redaktionsschluss das landesweite amtliche Ergebnis der Kommunalwahlen in Hessen noch nicht fest. Weil das Kommunalwahlrecht über Listenstimmen hinaus Stimmenhäufung und Streichung von Bewerbern zulässt, haben sich bei der zeitraubenden Auszählung gegenüber ersten Trendmeldungen hier und da doch noch einige Prozentwerte verschoben.
Die letzten Zahlen werden nichts an den teilweise verheerenden Stimmen- und Mandatsverlusten für CDU, SPD und Grüne ändern. Die erstarkende FDP dürfte ebenso wie rechte Parteien vom Aderlass der CDU profitiert haben. Die landesweit aufkommende Rechtspartei AfD, die sich als großer Wahlsieger feiert, hat im Endeffekt in vielen Kommunen schwächer abgeschnitten als ursprünglich gemeldet. Im nördlichen Bad Karlshafen schrumpfte der zunächst Schock auslösende AfD-Wert von 22 Prozent in der Trendmeldung auf ein »Normalmaß« von 14 Prozent im Endergebnis zusammen. In Frankfurt am Main, Offenbach, Darmstadt rutschte die AfD klar unter die psychologisch wichtige Zehn-Prozent-Marke, in Wiesbaden und Kassel blieb sie jedoch darüber.
Ein erster Blick auf das AfD-Personal wirft Fragen auf. Unter den wenigen bekannten Spitzenkräften stechen Martin Hohmann und Rainer Rahn hervor. Der Ex-BKA-Beamte Hohmann war 2004 als Bundestagsabgeordneter wegen antisemitischer Äußerungen aus der CDU ausgeschlossen worden. Er zog für die AfD in den Kreistag von Fulda ein. Der Frankfurter Arzt Rahn hatte sich einst bei FDP und Flughafenausbaugegnern (FAG) betätigt und steht für ein nach rechts driftendes gehobenes Kleinbürgertum. Mehrheitlich tummeln sich auf AfD-Listen politisch unbeleckte Nobodys und Karrieristen, Geschäftsleute und Handwerksmeister, Beamte, Unternehmensberater, Burschenschaftler, Neofaschisten und Menschen, die der AfD-Mitbegründer und Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel als »gescheiterte Existenzen« bezeichnet hatte. Die von Henkel mit ins Leben gerufene neue Lucke-Partei Alfa wirkte neben der AfD blass, konnte aber in Frankfurt und Wiesbaden je einen Rathaussitz erobern.
In den Wahlprogrammen von AfD und Alfa war Lokales unterbelichtet. Dieses Defizit glichen die rechten Wahlkämpfer durch migrationsfeindliche Parolen und einen Strauß unsozialer, umweltfeindlicher und neoliberaler Bekenntnisse gegen die Bundeskanzlerin aus. Die AfD rief, »Merkel muss weg«, auf Alfa-Plakaten war etwas von »Merxit« zu lesen.
Vor dem Wahltag hatte es Spekulationen über mögliche rot-rot-grüne Bündnisse vor Ort gegeben. In Frankfurt und Wiesbaden ist diese Konstellation mangels Mehrheit nicht möglich. In Kassel hat der örtliche SPD-Chef Uwe Frankenberger eine Zusammenarbeit mit der nach einem 10,6-Prozent-Erfolg gestärkten »Kasseler Linken« ausgeschlossen. Er will mit CDU, Grünen und FDP sondieren. In Marburg forderte die LINKE mit einem Rekordwert von 13,8 Prozent schon am Montag SPD und Grüne zu einer »Politik des sozialen Fortschritts« auf. Erste Signale aus den Reihen von SPD und Grünen dürften jedoch Hoffnungen auf Rot-Rot-Grün in der Universitätsstadt dämpfen.
Neben Kassel und Marburg haben Listen der Linkspartei, die längst nicht in allen Gemeinden vertreten ist, fast durchweg Stimmen hinzugewonnen. Nach einem ersten Überblick konnte sie die Anzahl ihrer Mandate in Rathäusern und Kreistagen von bisher 89 auf mindestens 138 steigern. In etlichen Kommunen waren LINKE-Aktivisten auf Listen mit anderen Bezeichnungen angetreten, die ebenfalls bis in den zweistelligen Bereich zulegten. So errechnet sich aus LINKE-Sicht unter dem Strich ein landesweites Ergebnis von rund fünf Prozent. Daneben verzeichnete sie etwa in Darmstadt oder Frankfurt Zuwächse. So bildet der Begriff »Rechtsruck« auch angesichts von 48 Prozent Wahlbeteiligung nur einen Teil der hessischen Realität ab. Doch von einer politischen Polarisierung muss man schon reden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.