Wałesa und die Akten
Wie das Institut für Nationales Erinnern in Warschau Geschichtspolitik diktiert. Von Holger Politt
Wie manch Gutes auf dieser Welt, so sollte auch die staatliche IPN-Behörde in Polen auf zwei Beinen stehen. Dem gesetzlichen Auftrag nach, mit dem die Staatsbehörde (Institut für Nationales Erinnern) 1999 ins Leben gerufen wurde, hat sie sich einerseits um die Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und gegen Kriegsverbrechen in den Okkupationsjahren 1939 bis 1945 zu kümmern, andererseits um die von staatlichen Organen verübten Menschenrechtsverletzungen bis 1990. Näher bestimmt wurden die sogenannten kommunistischen Verbrechen, die einen langen Bogen schlagen von 1939 bis 1990, denn sie werden verstanden als Verbrechen, die von Funktionären des kommunistischen Staats in der Zeit vom 17. September 1939 bis 31. Juli 1990 verübt wurden.
Nach dieser Logik ist die sowjetische Okkupation der Osthälfte des damaligen Polens, die bis Juni 1941 dauerte, entweder nur das kurze, brutalere Vorspiel zur eigentlichen Zeit der Volksrepublik Polen, die dann im Juni 1944 anbrach, oder umgekehrt, die lange Zeit der Volksrepublik Polen ist die direkte Fortsetzung und Erfüllung der im September begonnenen sowjetischen Okkupation. In beiden Fällen läuft dann die mit viel Blut bezahlte Befreiung Polens in den Jahren 1944/45 darauf hinaus, den kommunistischen Staat gegen andere Nachkriegsoptionen mit militärischen Mitteln brutal durchgesetzt zu haben.
So werden in Polen bereits seit längerem wichtige Koordinaten nationalen Erinnerns staatlich vorgegeben, Ausdruck des jeweiligen politischen Kräfteverhältnisses. Für die Gründung des IPN sprach sich praktisch das gesamte ehemalige Solidarność-Lager aus - bis weit in die liberalen Kreise hinein und über alle politischen Unterschiede hinweg. Nur vereinzelte Stimmen warnten, damit werde dem Missbrauch von Geschichte durch die Politik Tür und Tor geöffnet. Die Linksdemokraten vom Bündnis der Demokratischen Linken der (SLD) aber hatten zu jener Zeit längst ihren Kurs gefunden - einen zutiefst erfolgreichen, wie es schien.
Mit dem Versprechen, »Wir wählen die Zukunft«, konnte Aleksander Kwaśniewski Ende 1995 in der Stichwahl um das Präsidentenamt den Amtsinhaber und Favoriten Lech Wałesa schlagen. Die Formation rüstete sich bereits für die Sejm-Wahlen 2001, die dann auch überlegen gewonnen wurden, mit einem ähnlich ausgerichteten Versprechen: »Wir führen das Land in die Europäische Union«. Wer wollte da vermuten, dass die 1998/99 festgezurrte amtliche Interpretation der jüngsten Geschichte Polens in nicht allzu ferner Zukunft vor allem jüngere Wählerschichten packen würde, denen ja nun eine aussichtsreiche europäische Zukunft verheißen wurde? Wie sollte da Geschichtsstoff elektrisieren, der im Kern weit in die komplizierte Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückgreift und in seinen spezifischen Facetten außerhalb Polens ohnehin kaum verständlich ist?
Tatsächlich kam es anders. Bereits die in Polen seit der Wende übliche Aufreihung der Republiken lässt keinen Zweifel zu: Als erste Republik wird die Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik verstanden, die mit den Dreiteilungen Ende des 18. Jahrhunderts ihr Ende fand. Die Ehre der zweiten Republik fällt der Republik Polen von Ende 1918 bis zum September 1939 zu, als dritte Republik aber wird die Zeit seit 1990 verstanden. Die lange Zeit der Volksrepublik Polen von 1944 bis 1989 fällt hingegen in ein dunkles Loch, weil sie - je nach Lesart - nicht demokratisch oder nicht souverän gewesen sei. So gesehen ist die heutige IPN-Interpretation des kommunistischen Staats, der vom Beginn der sowjetischen Besetzung der Osthälfte des Landes bis zur Etablierung der dritten Republik bestanden habe, nur noch eine nahezu irrwitzige Steigerung, die allerdings kein seriöser Zeithistoriker unterschreiben dürfte.
Solange die Wirtschaftsliberalen der Konservativen Bürgerplattform (PO) die Regierung führten und später auch ihren Kandidaten erfolgreich ins Präsidentenamt brachten, wurde nichts ganz so heiß gegessen, wie es schon angerührt war. Wieder hieß es oft abwinkend, Vorrang hätten ohnehin aufholendes Wirtschaftswachstum und Modernität, Geschichtspolitik habe nicht das Gewicht der anderen Dinge, die der politische Alltag auf die Agenda setzte. Soweit sie dennoch betrieben wurde, mündete sie stets in die dritte Republik, die als größte Verheißung in der Geschichte Polens gefeiert wurde und so gewisse Bremsen setzte.
Als vor knapp zwei Jahren der frühere Partei- und Staatschef Wojciech Jaruzelski starb, wohnten seinem Begräbnis Jerzy Urban und Adam Michnik bei. Der eine symbolisiert als einstiger Regierungssprecher während der Kriegsrechtszeit 1981/82 wie kaum ein anderer noch immer die VR Polen, der andere gehörte in jener Zeit zu den bekanntesten Dissidenten. Nach der Wende schlugen beide den Weg als erfolgreiche Zeitungsmacher ein: Michnik wurde Chefredakteur der einflussreichen Tageszeitung »Gazeta Wyborcza«, Urban kreierte das geliebte oder gehasste Wochenblatt »Nie« (Nein).
Beide stehen aber auch für den Runden Tisch, an dem im Frühjahr 1989 Regierungsseite und demokratische Opposition die neue Seite in der Geschichte Polens aufschlugen.
Waren die protestierenden Anhänger der rechtspopulistischen PiS-Partei, die eine Aburteilung der Akteure des Runden Tisches forderten, zunächst noch eine kleine, übersichtliche Gruppe, die lediglich die Meinung am Rande de Gesellschaft artikulierten, ist deren Geschichtsverständnis seit Oktober 2015 so etwas wie Staatsaktion. Die geschichtspolitische Kampagne der PiS-Administration attackiert den Runden Tisch. Der sei ein fauler Kompromiss gewesen, den die dort versammelten, liberalen Solidarność-Vertreter geschluckt hätten des eigenen Vorteils wegen, der aber vor allem die kommunistische Seite ungeschoren davonkommen ließ. Die gesamte Entwicklung seitdem sei, bis auf die wenigen Ausnahmen nationalkonservativer Regierungszeiten, von diesem Kompromiss geprägt worden. Jetzt werde das geändert, denn der entscheidende Bezugspunkt falle nun nicht mehr ins Jahr 1989, sondern werde weit zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs geschoben, als die kommunistische Besetzung Polens begonnen habe.
Der erste, den es mit Hilfe der IPN-Behörde traf, war ausgerechnet Lech Wałesa, die Gallionsfigur der legendären Solidarność-Zeit. Neue und alte Aktenfunde aus den 1970er Jahren, die zum Teil im Haus des im November 2015 verstorbenen langjährigen Innenministers und Geheimdienstmannes Czesław Kiszczak auf Geheiß der Behörde beschlagnahmt wurden, sollen nun in aller Öffentlichkeit belegen, wie intensiv Wałesa mit dem kommunistischen Geheimdienst zusammengearbeitet habe. Polens letzter Arbeiterführer wird so unfreiwillig zum Kronzeugen der Anklage gegen den verwerflichen Kompromiss von 1989.
Polens Ex-Präsident Aleksander Kwaśniewski bemerkte kürzlich süffisant, das bezüglich seines Geschichtsverständnisses unversöhnlich verfeindete Polen werde wohl bald eine paritätische Schulbuchkommission brauchen, um überhaupt noch allgemein verbindliche Geschichtslehrbücher verlegen zu können.
Unser Autor war Leiter des Warschauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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