Miteinander wohnen in der Platte
Frankfurt (Oder) setzt auf einzigartiges Modell der Unterbringung von Flüchtlingen
Achmed kommt etwas später. Er hat Gitarre geübt mit einem Freund. Achmed gilt als der Dolmetscher der Familie. Seine Mutter hat bereits Tee eingeschenkt, nicht aus dem Beutel, sondern lose gebrüht und stark, fließt er aus der silberglänzenden Kanne. Die Kanne ist aus Syrien, so wie die Waffeln auf dem Tisch und das Zuckergelee. Die vier Mädchen - ein Jahr ist die Jüngste, elf Jahre die Älteste - sitzen vor dem Fernseher. Manchmal schauen sie auf den alten Bildschirm, dann spielen sie weiter.
Aref, der Vater, lächelt, wenn er erzählt. Seine dunklen Augen lächeln mit und seine Hände reden. Wie er vom Lkw steigen musste und der Soldat ihm die Maschinenpistole vor die Brust hielt. Aref fuhr Diesel und Mehl für die umliegenden Orte bei Al-Quamischli aus. Auf der einen Seite seine Leute, die Kurden, auf der anderen Assads Armee und der IS. Man wusste nie vorher, auf wen man trifft. Aref hatte Glück. Er wurde nur das Geld los, das er bei sich trug. Aber da wusste er, dass er gehen muss, auch wenn die Frau traurig war und er Angst hatte um seine Kinder. Von seinen sieben Brüdern lebten zwei bereits in Bochum und Minden. Deutschland also.
Aref kann das nicht so gut erzählen, auch mit den Händen nicht. Obwohl er mit seiner Frau in Frankfurt (Oder) Deutsch lernt, so wie die Kinder in der Schule und in der Kita. Manchmal erzählt Achmed für seinen Vater, ernst und eindringlich. Achmed ist vierzehn. Sein Bart beginnt schon zu sprießen. Er besucht die siebente Klasse. In Syrien hing der Unterricht davon ab, wie heftig geschossen wurde. Manchmal gab es eine Woche Schule, dann wieder einen Monat nicht. Trotzdem hat Achmed gute Noten. Mathematik macht ihm Spaß, Deutsch, Sport und Musik. Und PB, fügt er hinzu, politische Bildung. In Deutschland ist Demokratie. Nach Freunden an der Schule gefragt, schüttelt Achmed den Kopf: »Brauche ich nicht«, sagt er. Das klingt trotzig und traurig, es klingt nach Stress.
Zuerst lebte Aref im Flüchtlingsheim in Seefichten, dann bekam er eine Wohnung im Süden der Stadt. Er konnte seine Familie nachholen. Die Wohnungswirtschaft, meist »Wowi« genannt, gab ihnen die Wohnung. Vom Balkon kann man auf die Stadtbrücke schauen und nach Polen. 86 Quadratmeter, aber nur vier Räume. Die vier Mädchen wohnen zusammen im Durchgangszimmer. »Das ist nicht gut«, sagt Aref. Er will noch einmal mit dem Vermieter sprechen.
Vorher aber mit Claudia Tičar. Sie sitzt mit am Tisch, strahlt Klarheit aus und Sicherheit. Ihre Eltern kamen aus Slowenien nach Deutschland. Jetzt arbeitet sie beim Verein »Miteinander Wohnen«. Das ist eine Art sozialer Arm der Wohnungswirtschaft. Er veranstaltet Nachbarschaftsfeste und hilft, individuelle Probleme zu lösen. Claudia hat auch eine Zeitung mitgebracht, die der Verein »Slubfurt« herausgibt. Von Achmed sind gleich mehrere Fotos darin zu finden.
Im vergangenen Sommer entstand auf einer als Bürgerplatz umgewidmeten Brache eine Jurte, in der sich der Verein traf. »Die haben wir gebaut«, sagt der Junge. Vor dem Anwachsen des Flüchtlingsstroms war »Slubfurt« vor allem eine deutsch-polnische und studentische Angelegenheit für künftige Kulturwissenschaftler, die freie Kulturszene und Menschen aus der Region, die nicht in der Dimension von Landesgrenzen denken. Dort ist Achmed gern, und so ist er auch zu seiner Gitarre gekommen. Seit anderthalb Monaten übt er nun schon. Auf dem Handy hat er ein paar Links zu musikalischen Vorbildern. Die spielen Musik wie Rabab oder Oud. »Musst Du hören«, sagt Achmed.
»Wir waren auf den Zustrom der Flüchtlinge vorbereitet«, erklärt die Geschäftsführerin der Wohnungswirtschaftsgesellschaft Frankfurt (Oder), Christa Moritz. Schon im April 2015 wurde ein Kooperationsvertrag mit der Stadtverwaltung abgeschlossen. Das Heim in Seefichten sollte entlastet, die Flüchtlinge sollten menschenwürdig versorgt werden. Die dezentrale Unterbringung bekam Priorität. Bislang bekamen 120 Menschen, darunter 17 Kinder, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden und gute Aussichten haben, in Deutschland bleiben zu dürfen, Mietverträge für 56 Wohnungen. Die Bewohner konnten sich die Wohnungen mit aussuchen. »Mieter auf Augenhöhe«, nennt Christa Moritz das. Als der Flüchtlingsdruck zunahm und schnelles Handeln gefragt war, schloss die Stadt darüber hinaus einen Generalmietvertrag über 50 Wohnungen ab. 37 davon sind mit 142 Personen belegt. Sie kommen vor allem aus Syrien, Russland, Somalia, Pakistan, Afghanistan und Iran. Bei entsprechenden Voraussetzungen können auch diese Bewohner zu direkten Wowi-Mietern werden. »Der zur Verfügung stehende Raum liegt deutlich über der vom Land vorgesehenen Quote von sechs Quadratmetern pro Person«, sagt Christa Moritz zufrieden. Um die Integration in den Nachbarschaften zu begünstigen, gibt es eine Grenze von zehn beziehungsweise 20 Prozent der Wohnungen je Haus und Etage. Alle Wohnungen müssen sich im Rahmen der Richtlinie zur Angemessenheit von Kosten für Unterkunft bewegen. Außerdem unterstützt die Wowi das Entstehen von Patenschaften zwischen den Ansässigen und den Zugezogenen. Für das kommunale Wohnungsunternehmen sinkt damit auch die belastende Leerstandsquote, wenn auch nicht so gravierend wie durch den fortgesetzten Abriss von Überbeständen. Für eine schnelle Hilfe bei der Flüchtlingsunterbringung wurde die Instandsetzung der verplanten Wohnungen bereits in Angriff genommen, bevor entsprechende Fördervoraussetzungen für eine dezentrale Versorgung nach dem Landesaufnahmegesetz vorlagen. Die Wohnungswirtschaft hat sie aus eigenen Mitteln finanziert. Für 2016 werden umgewidmete Mittel aus dem Stadtumbauprogramm genutzt. »Wir erwarten, dass das Land Brandenburg an dieser Stelle nachlegt«, so Christa Moritz.
Milena Manns, verantwortlich für das Sozialmanagement und die Quartiersbetreuung bei der Wowi, bringt das auf die Formel: Schwächen werden zu Stärken. Schon 2014 gab es für Mitarbeiter im Unternehmen Weiterbildungsmaßnahmen zur interkulturellen Kompetenz. Die schriftlichen Ratgeber für Flüchtlinge gibt es inzwischen in sieben Sprachen. »Oft haben Migranten uns nicht nur beim Übersetzen geholfen, sondern uns auf Dinge aufmerksam gemacht, die erklärungsbedürftig sind. Wir sind selbst Lernende, und oft sind auch unsere Hausmeister die wichtigsten Lehrmeister. Sie sehen, was funktioniert und was nicht.« Es gibt bei Bedarf Sprachmittler vom ersten Gespräch bis zum Einzug und Begegnungsangebote, um die sich die Wohnungswirtschaft und der Verein »Miteinander Wohnen« gemeinsam mit Partnervereinen, Initiativen und Institutionen kümmern. Bei Haushaltsauflösungen, Umzügen und Spendensammlungen findet sich manches für die Ersteinrichtung der neuen Bewohner. »Wir stehen in der Verantwortung einer kommunalen Gesellschaft«, sagt Milena Manns. »Also nutzen wir unsere Potenziale zur fachmännischen Betreuung. Es ist eine Chance für Frankfurt, wenn die Menschen das als ihre Stadt erkennen. Dabei lassen wir die Alteingesessenen aber nicht außen vor.«
Weil Unsicherheit auch aus Unwissenheit wächst, gibt es regelmäßig Briefings und Mietergespräche. »Es sind sehr viele Gefühle im Spiel. Vom gut gemeinten Aktionismus bis zur tiefen Skepsis. Wer nicht will, dass Gerüchte zu Wertungen umkippen, muss Informationsvermittlung auf allen Ebenen leisten, um Verständnis und Empathie zu wecken«, sagt Milena Manns.
Wenn er den Deutschkurs erfolgreich abgeschlossen hat, will Aref sich nach Arbeit umsehen. »Ich verstehe schon sehr viel und kann auch lesen.« Für einen Job, weiß der Kraftfahrer und Tankwart, wird das nicht reichen. Aber auch so ist sein Tag ausgefüllt. Morgens bringt er die Mädchen zur Kita und zur Schule. Dann geht er einkaufen. Er kann sich im Supermarkt besser orientieren als seine Frau. Nachmittags ist Unterricht. Dann werden die Kinder abgeholt. Abends übt er mit der Frau Deutsch. Google und Achmed helfen dabei. Der Sohn weiß noch nicht, was er einmal werden will. Aber in Frankfurt möchte er bleiben. Es gibt nicht so viele Araber hier, sagt er. Fast nur Deutsche, das ist gut. Dabei kennen sie kaum ihre Nachbarn. Am ehestens finden die Kinder Kontakt. »Aber Frankfurt ist nicht so groß«, sagt Aref. »Die Schule nur einen Kilometer weit weg. Behörden und Ärzte, das geht alles zu Fuß oder mit der Straßenbahn. Ich habe die Kinder im Auge. Ich muss keine Angst mehr haben.«
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