Irgendwann gelingt es - aber dann ganz bestimmt!

Julia Gerlach erklärt, woran der »Arabische Frühling« gescheitert ist

  • Heinz-Dieter Winter
  • Lesedauer: 5 Min.

Als im Frühjahr 2011 die sogenannte Arabellion oder der »Arabische Frühling« in Tunesien und Ägypten ausbrach, danach Jemen, Libyen und Syrien erfasste und auch noch in weiteren arabischen Ländern Auswirkungen hatte, waren die Akteure - Jugendliche, Studenten, Intellektuelle, Arbeiter, Vertreter der Mittelschichten - sehr hoffnungsvoll. Sie glaubten, die verkrusteten Diktaturen endlich überwinden und ein besseres Leben, Arbeit und Brot sichern zu können. Inzwischen gilt der »Arabische Frühling«, wenn man von Tunesien absieht, als gescheitert.


Julia Gerlach: Der verpasste Frühling. Woran die Arabellion gescheitert ist.
Ch. Links Verlag. 248 S., br., 18 €.


Julia Gerlach, die als Journalistin viele Jahre in arabischen Ländern tätig war oder diese bereiste, formuliert Fragen, auf die sie sodann Antworten sucht: »Was ist schiefgelaufen? Wie konnte es geschehen, dass die Chance, die sich 2011 auftat, so gründlich vertan wurde? Lag es an der Unfähigkeit der Aktivisten der Revolution, sich zu organisieren oder auch nur gemeinsame Ziele für den Neuanfang zu entwickeln? Lag es an der Machtgier der Islamisten und deren Unfähigkeit, ihre Strukturen und Ideologie zu erneuern, um den Herausforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden? War es der Einfluss von außen, die Politik der USA und Europas oder auch der einflussreichen Golfstaaten, der die Revolution auf Abwege brachte? Oder lag es daran, dass die alten Regimes so stark und so gut verankert waren, dass sie Veränderungen zu verhindern wussten?«

Ihre Antworten geben dem Leser ein umfassendes und eindrucksvolles Bild über die Ereignisse seit 2011. Der besondere Vorzug ihrer Schilderung ist, dass im Mittelpunkt nicht die Expertenanalyse steht, sondern dass sie die Aktivisten, Jugendlichen, Journalisten, Künstler, Intellektuelle, Politiker, Vertreter fast aller politischen Kräfte, einschließlich Moslembrüder und Salafisten, zu Worte kommen lässt. Das macht das Buch so lebendig und lesenswert. Man fühlt mit und versteht, wie einstiger Enthusiasmus tiefer Enttäuschung gewichen ist.

Den größten Teil ihrer Darstellung widmet die Autorin der Entwicklung in Ägypten, um danach auch auf die anderen betroffenen Länder einzugehen. Die Autorin sieht drei Akteure, die das Geschehen bestimmen. In Ägypten wie auch in anderen Ländern der Region waren es vor allem nichtislamistische Aktivisten, Jugendliche der Mittelschicht, die den Anstoß gaben.

Die Regierungen waren nicht in der Lage oder auch nicht gewillt, diesen jungen Menschen, gut ausgebildet und großen Teils arbeitslos, Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Julia Gerlach sieht einen wichtigen Grund für das Scheitern der Arabellion darin, dass ihre Aktivisten »eine Revolution anzettelten, ohne vorher Alternativen geschaffen zu haben«. Der zweite Akteur waren die Moslembruderschaft und andere islamistische Kräfte, die gut organisiert und in der Bevölkerung vor allem auf dem Lande verankert waren und in die Führungspositionen drängten. Hinzu kommen militante ultraradikale islamistische Gruppen, wie IS, Al-Qaida und andere, deren Erfolgsgeschichte eng mit den Ereignissen der vergangenen fünf Jahre verknüpft sei. Und schließlich würden auch die alten Regimes weiterhin eine große Rolle spielen, entweder direkt wie in Syrien oder als Kraft im Hintergrund, wie in Tunesien oder Libyen. Was die Rolle der Armee in Ägypten betrifft, so urteilt die Autorin, dass es ihr nicht darum gehe, Ägypten zu demokratisieren. Sie wolle vielmehr das Nachfolgeproblem nach Mubarak lösen und einige Korrekturen vornehmen, »damit Ägypten auch in Zukunft ein militärgestütztes System habe«.

Bei den Parlamentswahlen hatten dann die Islamisten und die Vertreter des alten Regimes die besseren Chancen als Gruppierungen, die sich für eine neue demokratische Ordnung einsetzen. Als Mohammed Mursi von den Moslembrüdern die Präsidentschaftswahlen gewann, waren die Gesprächspartner von Julia Gerlach ernüchtert und enttäuscht. Einer von ihnen sagte: »Wir haben doch nicht Revolution gemacht, um dann die Wahl zwischen Pest und Cholera zu bekommen.«

Die Autorin meint, die Moslembruderschaft habe dazu beigetragen, dass ein demokratischer Neuanfang kläglich scheiterte. Als Mursi daran ging, Kurs auf ein islamistisches Regime mit einschneidenden Veränderungen gerade für das Leben der jungen Generation Ägyptens zu nehmen, entstand eine große Protestbewegung gegen ihn. Etwa 20 Millionen Ägypter sollen an Demonstrationen gegen ihn am 30. Juni 2013 teilgenommen haben. Das war dann die Stunde der Armeeführung, Mursi zu verhaften und eine beispiellose Repression gegen die Moslembrüder zu beginnen.

Als Abdelfattah al-Sisi im Mai 2014 die Präsidentschaftswahlen gewinnt, war - wie Julia Gerlach konstatiert - für einen Teil der Ägypter »die Welt wieder in Ordnung, für all die nämlich, die der Revolution von 2011 und ihren Folgen skeptisch gegenüberstanden«. Trotz deprimierender Fakten, der faktischen Militärherrschaft in Ägypten, deren Repressionsmaßnahmen unter al-Sisi schlimmer sind als unter Mubarak, des schrecklichen Wirkens des sogenannten Islamischen Staates, des Staatszerfalls in Libyen, der Bürgerkriege in Syrien und Jemen, beendet Julia Gerlach ihr Buch nicht ohne Hoffnung. Sie beschließt es mit den Worten eines Aktivisten des Tahrir-Platzes, Ahmed Hara, der bei der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste beide Augen verloren hatte: »Klar habe ich Hoffnung. Nie hat es in der Geschichte eine Revolution gegeben, die in nur fünf Jahren Freiheit und Gerechtigkeit gebracht hat. Immer hat es länger gedauert, und ich bin mir sicher, auch bei uns wird es gelingen. Irgendwann, aber dann ganz bestimmt!«

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