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»Sie dürfen hier nie etwas ablehnen«
Eine Entdeckung: Amalie Skram gelang 1894 eine beeindruckende Frauengestalt und ein Bild von der damaligen Psychiatrie
Else Kant ist Malerin. Sie, die vormals unter »feinen Leuten« Erfolg hatte, befindet sich jetzt in einer Schaffenskrise. Seit mehr als einem Jahr versucht sie, »das hervorzubringen, was ihr am Herzen lag«, ein Bild, das die Lebensangst symbolisiert. Fieberhaft steht sie Tag und Nacht vor der Staffelei, indes macht jeder Pinselstrich alles noch schlimmer. Das Gemälde, oder vielmehr der Versuch, die Idee zu verwirklichen, raubt ihr buchstäblich den Schlaf. Verzweiflung und Todessehnsucht sind nur wenige Schritte voneinander entfernt.
Amalie Skram: Professor Hieronimus.
A. d. Norw. v. Christel Hildebrandt.
Guggolz Verlag. 350 S., geb., 24 €.
Else Kant ist aber nicht nur Künstlerin. Sie ist auch Ehefrau und Mutter. Hier nimmt ihre Schaffenskrise ein größeres Ausmaß an. Mann und Sohn leiden unter ihrem Zustand, und wenn nicht alles »im Haus mit dem Kind, den Mahlzeiten und den Mädchen so lief, wie es sollte«, verursachte ihr das Höllenqualen. Ihre künstlerische Gelähmtheit einerseits und die Schlaflosigkeit andererseits nagen an ihrer körperlichen und seelischen Verfassung, bis es nur noch einen Ausweg gibt: professionelle Hilfe und räumlichen Abstand zu ihrem Bild. Klingt einleuchtend. Hätte Else aber nur auf die zaghaften Zweifel ihres Mannes gehört, bevor die Türen der renommierten Klinik von Professor Hieronimus hinter ihr zuschlugen!
In besagter Klinik, mehr Gefängnis denn Ort der Heilung, findet Frau Kant keine Ruhe, schon die nächtlichen Schreie der Mitinsassinnen auf der Station machen das unmöglich. »Der Lärm schnitt sich wie ein breites, eiskaltes Messer durch ihr Rückenmark.« Außerdem ist Else ja nicht geisteskrank. Trotzdem ordnete Hieronimus an, sie in einer geschlossenen Psychiatrie unterzubringen. Nicht nur sie weiß, dass sie fehl am Platz ist. Auch die respektvoll-freundschaftliche Behandlung der Schwestern ihr gegenüber zeigt es. Selbst die wirklich Verwirrten spüren ihre »Normalität«. Lediglich Professor Hieronimus scheint nicht merken zu wollen, dass Else schleunigst entlassen werden müsste, bevor sie wirklich durchdreht. Else ist für ihn eine Zahlende mehr, der zunächst der eigene Wille gebrochen werden muss, ist sie nun verrückt oder nicht.
»Der Professor duldet keine Kritik. Von niemandem, und am allerwenigsten von einer Patientin.« Werden die einen entmündigt und gedemütigt, unterstehen die anderen den eisernen Vorschriften des Tyrannen. Doch Else geht vor ihm nicht in die Knie. »Und wenn sie dafür auf dem Scheiterhaufen verbrennen müsste.« Ein regelrechter Machtkampf zwischen ihr und dem Professor entwickelt sich. Es verdichtet sich eine düstere Ahnung, dass sich ihr Aufenthalt in der Psychiatrie in die Länge ziehen wird.
Obwohl hier und da ein Schimmer von Humor aufflammt, ist die Lektüre von »Professor Hieronimus« vor allem bedrückend. Doch mit Else Kant schuf die in Westnorwegen geborene Amalie Skram (1846-1905) eine für ihre Zeit moderne Frauenfigur, die sich in ihrer Widerstandskraft neben einer Madame Bovary oder Effie Briest einreihen lässt.
Die Hinterfragung der Kategorien »normal« bzw. »nicht-normal«, die Unvereinbarkeit von Mutterrolle und Beruf, die Stellung der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft, die Tyrannei von Ärzten sind nur einige der Themen, die interessant miteinander verflochten werden. Der 1894 erschienene Roman erhält eine weitere Konnotation, erfährt man schließlich aus dem Anhang, dass es sich bei Else Kant um das Alter Ego der norwegisch-dänischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin handelt, und die unglaublichen Geschichten aus den Psychiatrien auf wahren Begebenheiten und Personen beruhen.
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