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Schichten aus Fleisch, Blut und Knochen
Andrzej Stasiuk reist von Polen aus tief in den Osten, um endlich auf einem Stück Erde zu stehen, das keine menschlichen Leichen bedeckt
Wenn es wahr wird, was Andrzej Stasiuk sich auf den letzten Seiten seines Buches ausmalt, dann wird Literatur wie die seine, unterhöhlt von den Untoten der Geschichte, in ein-, zweihundert Jahren nicht mehr existieren. »Es ist gut möglich«, schreibt er, »dass es dann nur noch die Zukunft geben wird«. Stasiuks Sehnsucht, das eigene Leben zu begreifen, indem er Schicht um Schicht des staubigen Bodens abträgt, unter dem die Skelette der Vorherigen lagern, diese Sehnsucht »wird mit der Wurzel ausgerissen werden«. An ihre Stelle würde die ausschließliche Sehnsucht nach dem Zukünftigen treten. »Es wird keine Geister, keine Erinnerung, kein Gedächtnis, keine Geschichte mehr geben.«
Andrzej Stasiuk: Der Osten. Roman.
A. d. Poln. v. Renate Schmidgall. Suhrkamp. 400 S., geb., 24,95 €.
Als der polnische Autor 1986 ein Holzhaus in der Einöde der Beskiden bezog, schien diesem Ort nichts ferner zu liegen als irgendeine Zukunft: »Mäuse und Siebenschläfer auf dem Speicher, Insekten im Holz, das Knirschen des Gebälks unter dem Druck des Windes oder der Wärme. Nachtvögel, Tiere im Wald, das Wasser im Fluss und schließlich die eigene Phantasie. Ringsum gab es niemanden. Dafür hatte ich Friedhöfe, mehr als genug.« In dieser Zeit muss es gewesen sein, als Stasiuk zum ersten Mal von jenen Geistern heimgesucht wurde, die ihn seither nicht mehr losließen. Den Geistern der Menschen, die hier einst lebten, bevor die Gewalten sie hinfortrissen und ihre Spuren verwischten. Diesen Gewalten sucht Stasiuk in seinem großen Essay »Im Osten«, vom Verlag als »Roman« annonciert, auf den Grund zu gehen.
Gewalten? Über all die Jahrhunderte waren es Menschen, die andere Menschen aus ihren Dörfern rissen, die sie vertrieben und meuchelten, befeuert von imperialer Eroberungsgier, von nationalistischem Vernichtungswillen und Klassenhass. Aber wer Stasiuk folgt in jene Gegenden, die der Historiker Timothy Snyder »Bloodlands« nannte und die hier nun als »Erde« apostrophiert werden, »die wie ein Schichtkuchen aus Fleisch, Blut und Knochen ist«, der bekommt auch jene Gewalten zu spüren, die tief in der Natur selbst wirken. Je erbarmungsloser Stasiuks Sprachstrudel die Sinne des Lesers erfasst und mit sich reißt, desto plausibler wird der Gedanke des Autors, dass es hier »nie Frieden geben wird, weil in den Adern dieser Landstriche, in ihren unterirdischen Flüssen eine Droge steckt, die den Wahnsinn anfacht, und einem schwindlig wird von den gigantischen Ausmaßen des Raums und von der Illusion, dass man ihn beherrschen und verwandeln könne. Dschingis Khan, Tamerlan, Peter der Große, Stalin, Hitler, Kapitalismus, Globalisierung ziehen heran wie meteorologische Phänomene«.
Der unermessliche Raum dieses Ostens, die Tausende von Kilometern sich hinstreckende Leere hinter dem Ural - viele hätten darin die Verheißung einer Eroberung ohne Hindernisse erkannt. Allein: Dieser alles mit sich reißende »Wind aus der Tiefe der Dunkelheit«, der dir auch in Lublin noch kalt ins Gesicht weht, schlug ihnen unerbittlich entgegen. Napoleon, Hitler: »Dass es etwas so Großes wie diesen flachen Osten geben könnte, das konnten sie sich nicht vorstellen. Welche Strecke du auch zurücklegst, du kommst nicht an. Wie viele du auch losschickst, sie gehen unter.«
Von den Dörfern der Großeltern aus, die jene 1947 verlassen mussten, um am Aufbau der neuen Welt mitzuschuften, reist der 1960 geborene Stasiuk tief hinein in den Osten Russlands, nach Irkutsk, Ulan-Ude, Tschita. Durch die sengende Hitze der Tage und die klirrende Kälte der Nächte, verbracht in Schlafsäcken unter freiem Himmel, in flatternden Zelten und seltsamen Hotelzimmern, trägt es ihn bis ans Ende der mongolischen Wüste Altan Els und nach China, woher schon längst mehr als nur ein Hauch jener ewigen Zukunft herüberweht.
Im südwestsibirischen Gebirgsdorf Kosch-Agatsch, wo Russland an Kasachstan, China und die Mongolei grenzt, notiert Stasiuk: »Ich wollte sehen, wie das Land endet, das ich seit meiner Kindheit kannte. In dessen Schatten ich gelebt hatte. Es erhob sich am Horizont wie ein hochkant gestellter Kasten, wie der Bruchteil eines Kontinents, in die Erde gerammt wie ein Grabstein.« Lauter Orte, denen der Mensch nicht beikommen kann, zu gewaltig für den Sieg irgendeiner Besatzung.
Dass es dem Kommunismus »darum ging, den Kosmos für ungültig zu erklären«, das habe er von Andrej Platonow gelernt. Ein zerlesenes Exemplar von dessen um 1930 geschriebenem Roman »Baugrube« trägt er auf allen Reisen mit sich, eine »bescheidene Ausgabe«, die am Ende mehr als 20 000 Kilometer auf dem Buchbuckel hat.
Um zu begreifen, was Stasiuk zu seinen Reisen in den Osten und zu deren durch die Zeiten und Räume mäandernden Reflexion getrieben hat, muss man mit ihm nach Lublin gehen, an den Ausgangspunkt, das »Tor zum Osten«. Was er hier spürt, ist der Wind, der aus den deutschen Vernichtungslagern Sobibor und Bełżec herüberweht. Was er sieht, sind Menschen, die schweigend den Platz derer eingenommen haben, die in den Gaskammern starben. Was in ihm aufkommt, ist der Gedanke, »dass wir mit unserem Leben die Orte auszufüllen versuchen, an denen sie gelebt haben«. So wie auch Stasiuks eigene Eltern, »die aus dem Dorf in die Großstadt kommen konnten, weil in dieser Stadt Platz frei geworden war. Und ich konnte dort geboren werden, um später meine naive Ost-Nostalgie zu pflegen, bevor ich begriff, dass der Osten auch ein Grab ist.« Weder über den Kommunismus noch über die ermordeten Juden wurde in seiner Familie je gesprochen.
Es sei nicht ausgeschlossen, schreibt Stasiuk, dass ihn »die Angst vor allem Menschlichen« an den Rand der Welt geführt habe. »Dass sie mich immer wieder geheißen hat, dorthin zu reisen, wo das Menschliche schwindet und nicht von Grauen unterwandert ist. Von der Lubertowska an den Rand der Altan Els, wo man unter der Erde, zwischen den jahrhundertealten Schichten des Sandes, nur Tierknochen finden kann. Keine Asche, keine Fuhren von Leichen«.
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