Von Blindheit und Sehen

Über das beste aller Museen, in dem es absolut nichts zu sehen gibt

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.
Empathie und Empirie bedingen manchmal einander. Wir leben in einer Welt der Vereinzelung und verlernen zunehmend, uns in andere hineinzuversetzen. Auch ein Grund, warum man mit Parolen gegen Geflüchtete punktet. Vielleicht brauchen wir einfach mehr Erfahrungen am eigenen Leib.

Für anderthalb Stunden war ich vollkommen erblindet. Ich hatte ja schon viele Museen erlebt, in denen es faktisch nichts zu sehen gab. Aber dieses hier, das »Dialog im Dunkeln« im Frankfurter Ostend, war mit Abstand das beste aller Museen, in denen es absolut nichts zu sehen gab. Man drückte uns einen Blindenstock in die Hand, gab uns einige Anweisungen, wir sollten zum Beispiel die zu ertastenden Wände als Orientierung verwenden, und schon lotste man uns, eine Vierergruppe, in die absolute Finsternis. Es war tatsächlich so stockdunkel (kommt dieses Wort eigentlich von jenem Stock, den man vor sich hin und her wedelt?), wie ich es nie zuvor gekannt hatte. Dort empfing uns unser Guide, Andy mit Namen, eine angenehme Stimme, wir sahen ihn ja nicht. Später erfuhren wir, dass er blind ist. Er war der einzige Sehende in den Räumlichkeiten, durch die er uns führte.

Wir machten allerlei, gingen über Brücken, hörten Musik, spielten Fußball und bestellten an einer Bar Bier und Chips und ließen es mit einem Gespräch mit Andy enden. Anfangs riss ich die Augen auf, so als könnte ich dadurch doch etwas erkennen, immer und immer wieder, solange bis sich Kopfschmerzen einstellten. Sie zu schließen machte mir Angst, obgleich es einerlei gewesen wäre. So irrational ist man in seiner Hilflosigkeit doch. Wir tasteten Bankautomaten, Briefkästen, Fenstersimse und gingen über eine Ampel mit Blindenleitsystem, wie es korrekt heißt. Der Bordstein war eine richtige Hürde. Ich fuhr mit dem Stock ständig von links nach rechts, rumpelte an meinen Vordermann oder -frau. Wir sprachen alle miteinander, denn Sprache war plötzlich ein Teil unserer Bewegung geworden. »Wo bist du?« »Wo seid ihr?« »Bist du das, Schatz?« Man lernte Abstände schätzen und begriff ganz schnell, ohne Augenlicht wären wir fürs Erste aufgeschmissen. Die Schlaufe am Blindenstock, so lehrte es mir der Guide, sollte man nicht ums Handgelenk legen. Führe ein Auto darüber, würde man zu Boden gerissen. So weit dachte ich natürlich nicht.

Man muss eben Erfahrungen machen. Aber manche Erfahrungen macht man nicht einfach so. Entweder macht man sie schicksalhaft oder gar nicht. Oder man geht in Museen, die Erfahrungen lehren. Und Dialoge bieten. Andy blieb im Dunkeln zurück. Er sagte, es gehöre zum Konzept, dass man die leitende Stimme nicht abschließend zu Gesicht bekomme. Ein wenig mystisch fand ich das ja schon. Was Andy uns erzählte, war jedoch weniger mystisch als deprimierend. Seine Frau zum Beispiel, die sei sehend. Immer wenn er mit ihr unterwegs ist, sähen die Menschen in ihr seine Betreuerin. In den Niederlanden, von wo sie her sei, wäre das ein wenig anders. Aber in Deutschland sei er eben behindert und entweder nähme man ihn als Menschen nicht wahr oder man bevormundete ihn paternalistisch. Das Vorurteil sei gewissermaßen immer zur Hand. Und ich habe mich selbst verhaspelt, fragte ob es keine Nischen des Respekts für Kranke gäbe und war schockiert, dass ich ihn als krank bezeichnete. Dann sagte ich »Sorry, ich meinte nicht krank – eher so Leute mit Makel« und erschrak wieder. Ich bin immer bester Absichten, aber tatsächlich ist auch meine Sprache zuweilen reformbedürftig.

Warum ich das hier erzähle? Ich möchte mich einerseits nochmals bei Andy entschuldigen. Falls Du das hier liest: Ich meinte nicht, dass Du krank bist. Andererseits berichte ich davon, weil es vielleicht nicht die dümmste Idee wäre, mehrerer solcher Museen zu kreieren, die zur Schaffung eines empathischeren Zeitgeistes beitragen könnten. Einen »Dialog in Armut« zum Beispiel. Oder einen in einer bürgerkriegsähnlichen Gegend. Wie man das genau umsetzen könnte, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Erst einmal zählt ja die Idee. Man sollte mal Bessergestellte in Erlebnisräume voller Knappheit und Entbehrung schicken und hernach mit ihnen über Sozialabbau diskutieren. Oder uns Europäer in einen Raum mit Bombenhagel und so weiter. Vielleicht öffnet uns das ein wenig die Augen. So wie Andy meine Augen in der Dunkelheit geöffnet hat.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Der Heppenheimer Hiob