Die Borniertheit der Leitartikler
Rudolf Walther über den Absturz der SPD in der Wählergunst und den Unterschied von »Moral« und »Ethik« im Politikbetrieb
Zu den ödesten Leitartiklergemeinplätzen gehört, Argumente niederzumachen mit dem Hinweis, sie seien »moralisch« und deshalb »unpolitisch«. Dahinter steckt nur die granitene Borniertheit, man könnte im politischen Diskurs auch nur einen Halbsatz formulieren, ohne sich zumindest implizit auf politisch-moralische Voraussetzungen zu berufen. Wer »moralisch« gegen »politisch« auszuspielen versucht, weiß schlicht nicht, von welchen elementaren intellektuellen Voraussetzungen er ausgeht. Er schwadroniert, das heißt argumentiert auf der Basis selbstverschuldeter Ignoranz und kaschiert dieses Defizit mit der plumpen Versicherung, auf dem Boden der Realität und vermeintlich moralfreier »Realpolitik« zu stehen.
Diese Borniertheit lebt davon, dass sie nicht unterscheidet zwischen den Begriffen »Moral« und »Moralisierung« oder »Ethik« bzw. der Differenz zwischen moralischen Normen und ethischen Überzeugungen. Vereinfacht gesagt: Moralische Normen, ohne die keine Politik auskommt, sind rational begründungspflichtig und -fähig. Das Kriterium für deren Geltung ist ihre rational bzw. politisch-moralisch legitimierbare Verallgemeinerungsfähigkeit.
Dem gegenüber sind ethische Überzeugungen im strengen Sinne nicht begründungspflichtig und -fähig. Sie sind einfach da und können geglaubt und befolgt werden oder auch nicht. Das Verbot, Mädchen zu beschneiden, lässt sich politisch-moralisch widerspruchsfrei aus dem Recht auf die körperliche Integrität und die Autonomie der Person begründen. Für den ethisch legitimierten Vorsatz, sich vegetarisch zu ernähren, gilt das nicht. Deshalb setzten sich jene Grünen, die es im vergangenen Bundestagswahlkampf mit dem »Veggiday« versuchten, nur der Lächerlichkeit aus. Sie verwechselten Moral/Politik mit Moralisierung/ Ethik. Der schäbige Pragmatismus der grünen Kretschmänner behandelt die Flüchtlings- und Asylpolitik - eine Frage von politisch-moralischer Prinzipientreue auf der Ebene demokratischer, rechtsstaatlicher und völkerrechtlicher Normen - wie eine ethische Frage oder Geschmacksfrage. Aber hier geht es um Rechtsansprüche und nicht um die Wahl des Menus.
Ein instruktives Beispiel für die Nichtbeachtung der Differenz von »Moral« und »Moralisierung« bieten die SPD und die französische »Parti Socialiste« (PS). Beiden Parteien geht es schlecht, sie verlieren Mitglieder, Wahlen und Ansehen. Die Gründe dafür sind komplex und liegen in beiden Ländern zumindest teilweise unterschiedlich. Der Hauptgrund für den Niedergang der Sozialdemokraten ist die Nichtaufarbeitung der Schröder/Hartz-»Reformen«, mit denen elementare Bestandteile sozialer Gerechtigkeit im Namen von »Modernisierung« und »Flexibilisierung« über Bord geworfen wurden. Wer daran erinnert, dass damit die politisch-moralische Substanz der SPD verraten wurde, wird innerhalb der Partei und vor allem vom Leitartikelbetrieb der Moralisierung bezichtigt - meist mit dem Hinweis auf die statistisch getürkten Resultate der »Reformen«: die steigende Zahl der Arbeitsplätze und Beschäftigten - doch welcher Art bzw. unter welchen Rahmenbedingungen?
Die sozialistische Regierung in Frankreich manövrierte die PS in eine ähnliche Sackgasse - nicht mit »Reformen«, sondern mit unerfüllten Wahlversprechen und einer scharfen Rechtswende in der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, die beide der Politik der Konservativen aufs Haar gleichen.
Im Unterschied zum Schröder/Hartz-Debakel, das einfach abgehakt wurde von der nachfolgenden SPD-Führung, protestieren allerdings erhebliche Teile des PS bis ins Führungspersonal gegen Arbeitsrecht»reformen« à la Schröder/Hartz der Regierung Valls. Und sie berufen sich dabei explizit auf das politisch-moralische Fundament des Sozialismus, ohne deshalb von der Regierung und den tonangebenden Kommentatoren in den Medien der »Moralisierung« bezichtigt zu werden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.