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Was von der Leipziger Buchmesse 2016 bleibt
In Michael Köhlmeiers Roman »Das Mädchen mit dem Fingerhut« kommt das Wort »Flüchtling« nicht vor. Der österreichische Schriftsteller erzählt darin von einem sechsjährigen Mädchen unbekannter Herkunft, das in einer namenlosen westlichen Stadt strandet und sich dort - unbegleitet, jedoch in wechselnder Obhut - durch den Winter schlägt.
Köhlmeiers schmaler Roman ist nur einer von mehreren, dem auf dieser Leipziger Buchmesse der Stempel »Buch der Stunde« aufgedrückt worden ist. Tatsächlich, verrät der Autor im Gespräch auf dem »Blauen Sofa« in der bahnhofsgleichen Glashalle der Messe, hatte eine Nachricht aus dem Jahr 2014 ihren Anteil am Werden seiner Erzählung. Damals, als von einer »Flüchtlingskrise« noch kaum gesprochen wurde, waren fünf allein reisende Kinder aus einem österreichischen Auffanglager verschwunden. Zur selben Zeit beschäftigte sich Köhlmeier mit der Geschichte der deutschen »Wolfskinder«, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem nördlichen Ostpreußen elternlos und gottverlassen gen Baltikum zogen. Hier wie dort: Schicksale, in denen jeder Erwachsene das nackte Grauen gewahrt. Köhlmeier aber, der mit den Augen eines Kindes zu sehen versteht, erkannte auch das Abenteuer darin. Figuren wie Huckleberry Finn, sagt er, hätten es ihm immer schon angetan.
Ein Buch der Stunde also? Köhlmeier ist ein Erzähler, der aus den Schätzen der europäischen Märchen- und Sagentradition schöpft. Wer dächte beim Titel seines jüngsten Buches nicht an Hans Christian Andersens »Mädchen mit den Schwefelhölzern«? Märchen, sagt der Autor auf dem Sofa, führen nicht fort von der Realität, sie haben immer einen realen Kern. Den Andersen etwa, den könne man heute lesen wie eine Sozialreportage. Köhlmeier, der auch durch seine Nacherzählungen griechischer Sagen bekannt geworden ist, nennt das Märchen eine frühe Form der Psychoanalyse. Es führe zurück zu Archetypen und Grundmustern menschlicher Konflikte, die kein Verfallsdatum kennen. In seinen eigenen Büchern gehe es weniger darum, irgendein Thema erschöpfend zu behandeln, vielmehr lasse er sich von den Figuren, die eher zu ihm kämen, als dass er sie erfände, durch die Geschichte leiten. Wenn man sich in eine reale Person verliebe, wie absurd wäre da die Frage, welches Thema diese Beziehung habe und wohin sie führe?
Köhlmeiers Roman ist wahrlich nicht das einzige Buch auf dieser Messe, in dem Menschen aufbrechen, ohne zu wissen, wo sie landen oder stranden werden. Unterwegssein allerorten, angefangen beim Weltreisenden und Revolutionär Georg Forster (1754-1794), dessen Leben und Denken »zwischen Freiheit und Naturgewalt« der Philosoph Jürgen Goldstein erzählend auf den Grund geht. Für seine Biografie wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Sachbuch, ausgezeichnet. Dieser Forster, sagt Goldstein, habe in Zeiten enormer Umbrüche gelebt - ganz wie wir heute. In einer alten Welt sei er aufgebrochen, in eine andere zurückgekehrt.
Auch in der Belletristik herrscht rege Bewegung - fernab der Balkanroute. Kein Flüchtling im engeren Wortsinne ist es, der in Peter Stamms Neuling »Weit über das Land« von einem Moment auf den anderen das Weite sucht. Nein, der Schweizer Schriftsteller lässt einen Familienvater - nach einem glücklichen Urlaub und einem romantischen Abend im trauten Heim - aufbrechen ins Ungewisse, ohne Abschied, ohne Ausrüstung, ohne Ziel. »Gründe zu gehen«, sagt Stamm in einem Messegespräch, »gibt es immer«. In Thomas Glavinics Wälzer »Der Jonas-Komplex« lässt der Titelheld sich von seinem Anwalt in unwirtlichen Gegenden irgendwo auf der Welt aussetzen: Sehnsucht nach existenzieller Einsamkeit. Nicht aus materieller Not, sondern aus mentaler Verwahrlosung suchen auch die vier jungen Protagonisten in Ronja von Rönnes Romandebüt »Wir kommen« das Weite - oder vielmehr sich selbst. Auf der Messe sagt die 24-jährige Autorin, die im Vorjahr mit einem antifeministischen Essay einen Netzsturm der Entrüstung auf sich gelenkt hatte, den Satz: »Das Gefühl der Leere ist ein Luxusproblem«.
Aber wie weit ist es in Europa mit diesem Luxus noch her? Immer seltener, so scheint es, richtet sich das literarische Auge deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ausschließlich nach innen. Immer brachialer bricht die reale globale Unbehaustheit in ihre Bücher ein. Karen Duves neuer Roman »Macht« spielt in einer allzu nahen Zukunft, in der die Welt weiß, dass sie unumkehrbar dem Untergang geweiht ist. Im Angesicht der Katastrophe aber obsiegen im Ich-Erzähler Sebastian nicht etwa die Liebe und das Mitgefühl. Nein, dieser Mann, der in besseren Zeiten eine gegenüber seiner Umwelt solidarische, seiner Frau gegenüber emanzipatorische Fassade zu wahren wusste, offenbart sich nun erst als ichsüchtiger Barbar. Die Demokratie, sagt Duve in ein Messemikrofon, braucht die richtigen Voraussetzungen. Wenn die materielle Absicherung, das soziale Gefüge, das ökologische Gleichgewicht aus den Frugen geraten, verrohen die Menschen. Die Krise gebiert Ungeheuer.
Aber dann schallt das Lachen des Abbas Khider durch die Hallen. So ausgelassen, so lebenszugewandt wie den 43-jährigen Deutschen, der nach Jahren der Haft und der Flucht vor Saddam Husseins Schergen im Jahre 2000 als Iraker hier gelandet war, habe ich auf dieser Messe keinen anderen Schriftsteller den bitteren Realitäten ins Antlitz springen sehen. Auch Khiders Roman »Ohrfeige« ist das Etikett »Buch der Stunde« angeheftet worden. Dabei ist die Handlung, die einen irakischen Flüchtling in den Mühlen der deutschen Bürokratie zermalmt, zu Beginn dieses Jahrhunderts angesiedelt. Man müsse, kontert Khider, etwa in den Büchern der Anna Seghers nur die deutschen Namen durch arabische ersetzen, schon seien auch sie wieder brandaktuell. Sein eigener Romanheld flieht weder aus wirtschaftlichen noch aus politischen Gründen. Er flieht, weil ihm einer Hormonstörung wegen Brüste wachsen. Es gebe Tausende von Gründen, seine Heimat zu verlassen, lacht Khider. Warum sollte einer davon legitimer sein als der andere?
Auf seine gute Laune angesprochen, bringt Khider, der in seinem früheren Leben »elfmal im Knast gesessen« hat, das Gefühl ins Spiel, »literarisch-ästhetisch zurückschlagen« zu können. Immer behandle er in seinen Büchern bittere Themen, würze sie aber stets mit Sarkasmus, Humor, Ironie. »Das Leben«, beharrt er, »ist schön«. Und jede Krise, auch die jetzige, finde irgendwann ihr Ende - sei es ein gutes, sei es ein schlimmes. Ein arabisches Sprichwort fällt Abbas Khider ein, das auch als Motto über dieser quicklebendigen, dabei so bedrückten Buchmesse hätte stehen können: »Humor und Geduld sind Kamele, die uns durch jede Wüste tragen.«
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