Fit im Stress

Internetprogramm »Pro Mind« soll psychischen Krankheiten wie Depressionen vorbeugen

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 5 Min.
Immer mehr Menschen fühlen sich gestresst und depressiv. Krankenkassen wie die Techniker oder die Barmer GEK suchen nach schneller und wirksamer Hilfe für Betroffene - auch über das Internet.

Auf zahlreichen Webseiten - mal mehr, mal weniger seriös - geht es um den Stress, dem wir heutzutage alle angeblich ausgesetzt sind. Glaubt man dem, was Menschen dort schreiben, sind wir ihm heute intensiver und erbarmungsloser ausgeliefert sind als jemals zuvor in der Geschichte der menschlichen Existenz. Das Internet ist ein wunderbarer Ort, um sich über solche Thesen auszutauschen. Hier ist es viel einfacher als im analogen Raum, auf Menschen zu treffen, die sich ähnlich gestresst oder depressiv fühlen, einen ähnlichen Blick auf die Welt haben.

Dass die Zahl der Gestressten und vielleicht sogar Depressiven in den vergangenen Jahren so stark angestiegen ist, hält Ralph Molner von der Krankenkasse Barmer GEK für ziemlich unwahrscheinlich. »Einfach zu sagen ›Es ist mehr geworden!‹, das wäre mir zu pauschal«, sagt er. Und jenseits der Internets sieht er vor allem einen veränderten Umgang der Gesellschaft zum Beispiel mit Stress als eine Ursache dafür, dass es immerhin ganz unbestritten einen gefühlten Anstieg bei psychischen Belastungen und Erkrankungen gibt. »Vielleicht gibt es da wirklich einen kleinen Anstieg, das mag sein. Aber der gefühlte Anstieg bei diesen Krankheiten hat auch viel damit zu tun, dass sich Menschen heute einfach eher trauen, deshalb zum Arzt zu gehen.« Die Gesellschaft reagiere sensibler auf diese Krankheiten als früher. Dass sich über psychische Krankheiten so leicht googlen und chatten lässt, hat auch damit zu tun.

Datenschutz bei der Onlineberatung

Vertreter der Barmer-GEK beteuern, dass ihr Online-Hilfsangebot für möglicherweise psychisch Kranke den geltenden datenschutzrechtlichen Standards entspreche.

Der Kasse sei es nicht möglich, Details zu dem zu erfahren, was ihre Versicherten im Rahmen von »Pro Mind« an Daten eingeben. »Wir können definitiv nicht zurückverfolgen, wer dort was eingibt«, sagt der Thüringer Projektverantwortliche der Kasse, Ralph Molner.

Die Technik werde von einem externen Dienstleister für die Kasse bereitgestellt, der der Barmer GEK nur mitteile, wie viele Versicherte das Angebot nutzen und dann über die Anzahl der Nutzer mit der Kasse seine Leistungen abrechne. Medizinische Daten würden nicht ausgetauscht, sagt Molner. Diese seien nur für den Versicherten und den möglicherweise im Hintergrund arbeitenden Psychologen sichtbar. sh

Einen Grund, jene nicht ernst zu nehmen, die sich übermäßig gestresst oder sogar depressiv fühlen, aber eben nicht krank sind, sind solche Differenzierungen allerdings freilich nicht - weshalb die Krankenkasse Barmer-GEK gemeinsam mit einem externen Partner ein Internetangebot mit dem Namen »Pro Mind« - in deutsch etwa: »für den Geist« - entwickelt hat, das sich genau an solche Menschen richtet: an jene, die sich großem Druck ausgesetzt fühlen, aber eben noch nicht erwiesenermaßen psychisch krank sind. »Das ist nichts für Menschen, die schon an einer Depression im fortgeschrittenen Stadium leiden«, sagt Molner, der für die Barmer GEK in Thüringen arbeitet und das Projekt im Freistaat federführend betreut. »Aber unser Angebot kann verhindern, dass Menschen erst richtig in eine Depression verfallen, weil sie eine schnelle, erste Hilfe bekommen.« Von Selbsthilfegruppen für psychisch Kranke und Depressive kommt viel Lob für das Konzept.

Im Kern funktioniert »Pro Mind« - das die Barmer-GEK derzeit nur für ihre Versicherten, für die aber ohne Zusatzkosten freischaltet - so: Über das Internet füllen Betroffene auf einer speziellen Webseite zunächst mehrere Fragebögen aus: unter anderem einen zu Burnout- und Stressbeschwerden und einen zu Schlafproblemen. Bitte »beurteilen Sie den Schweregrad Ihrer Schlafprobleme während der letzten zwei Wochen«, lautet bei Letzterem beispielsweise eine der Fragen. Die Teilnehmer des Projekts können dann aus einem Raster vorgefertigter Antworten eine wählen, die am besten zu ihnen passt: keine, leicht, mäßig schwer, schwer oder sehr schwer.

Je nachdem, welche psychische Belastung aus den Antworten spricht, werden den Teilnehmern dann ganz verschiedene Trainingsaufgaben und Probleme gestellt, die diese in den folgenden Tagen und Wochen am Computer lösen können - in der Hoffnung, dass sie dadurch weniger gestresst durch ihr Leben gehen werden. In der Lektion »Fit im Stress« klicken sich die Teilnehmer zum Beispiel erst durch eine Seite, auf der sie erfahren, was Stress eigentlich ist, welche Folgen er haben und wie man ihn bewältigen kann. Dann gibt es eine Art Quiz, wodurch das eben Gelesene in Erinnerung gerufen werden soll. Schließlich folgt eine Seite, auf der die Teilnehmer selbst nennen sollen, welche Dinge ihnen im Leben Kraft geben. »Erstellen Sie hier eine Liste von Dingen, wie Sie sich täglich etwas Gutes tun können«, steht dort. »Wählen Sie jeden Tag eines davon aus!« Wer selbst keine Ideen hat, dem schlägt das Programm Dutzende Möglichkeiten vor, unter anderem: ein Buch lesen; die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren; telefonieren mit einer Freundin; Joggen; Yoga; ins Kino gehen; mit der Nachbarin quatschen; Musik laut aufdrehen.

Im Hintergrund, sagt Molner, werteten bei Bedarf zudem Psychologen das aus, was die Menschen im Netz eingeben, welche Ergebnisse sie bei den Trainings erzielen - und geben dann gegebenenfalls auch eine entsprechende Empfehlung ab, wenn Menschen angesichts dieser Ergebnisse so nah an einer echten Depression oder einer echten Erkrankung sind, dass sie medizinischen Hilfe brauchen. Und zwar unmittelbar, im Gespräch von Mensch zu Mensch.

Molner räumt ein, das Online-Angebot sei nichts für Menschen in einem fortgeschrittenen Depressionsstadium. Klassische Therapien ließen sich weder im Fall von psychischen Krankheiten noch bei vielen anderen Gesundheitsstörungen durch internetbasierte Angebote ersetzen. »Aber als Unterstützung für die klassische Therapie werden Online-Angebote definitiv wichtiger werden.« Gleichzeitig seien sie für manchen Betroffenen wohl überhaupt eine gute Möglichkeit, ihn überhaupt dazu zu bewegen, eine klassische Therapie in Anspruch zu nehmen. Manchen Menschen, die zum Beispiel an einer Vorstufe zu einer Depression litten, sei es lieber, Fragen in einer ihnen vertrauten Umgebung schriftlich zu beantworten. Das sei bei Interaktionen über das Internet ohne Weiteres möglich. »Damit wollen wir auch Betroffene erreichen, die sich gar nicht erst in eine Therapie begeben, weil sie sich davor scheuen«, sagt Molner.

Peter Voigt, der seit vielen Jahren Menschen begleitet, die psychisch krank sind, hält solche Angebot von Krankenkassen ebenfalls für eine wichtige Ergänzung zu klassischen Therapieangeboten. Es sei schade, dass die Barmer GEK »Pro Mind« derzeit nur für ihre Versicherten anbiete, sagt Voigt, der in Meiningen und Zella-Mehlis Selbsthilfegruppen leitet, in denen psychisch kranke Menschen Hilfe finden können. Gerade auch, weil Termine bei Psychologen oder Psychotherapeuten in Thüringen nur schwer zu bekommen seien. In Südthüringen warte man drei Monate oder sogar ein halbes Jahr, ehe man zu einem Gespräch mit einem Psychotherapeuten komme, sagt Voigt. Diese Zeit lasse sich gut mit Online-Angeboten überbrücken.

Wie viele Menschen die Barmer-GEK mit ihrem Web-Angebot in den kommenden Monaten erreichen wird und welche Kosten der Kasse dadurch entstehen werden, ist bislang noch unklar. Das ganze Projekt ist auch für die Kasse ein Test. Molner sagt, er hoffe auf etwa 1000 Teilnehmer im ersten Jahr des Betriebs. Davon hänge auch ab, was die Kasse für das Projekt letztlich ausgeben muss - günstiger als die Behandlung von depressiv gewordenen Versicherten dürfte das aber in jedem Fall sein.

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