Bedrohlicher Witzbold

Londons OB Boris Johnson fordert Europa heraus und zieht in den innerparteilichen Krieg

  • Ian King
  • Lesedauer: 4 Min.

Lange wollte er sich im Volksabstimmungskampf um den britischen EU-Verbleib nicht festlegen, doch nach den Verhandlungen David Camerons mit der EU entschied sich der Hamlet von der Themse. Der bekannteste konservative Hinterbänkler und Londoner Oberbürgermeister mit dem markigen Namen Alexander Boris De Pfeffel Johnson plädiert seit Neuestem für einen Austritt Großbritanniens aus der europäischen Staatengemeinschaft.

Und das mit einem merkwürdigen Argument: Die Europäer verstünden nur eine Politik der Härte. Stimmten die Briten für den »Brexit«, gäbe es neue Verhandlungen. Die Partner würden dann bessere Bedingungen bieten. In der Folge könnte es eine zweite Abstimmung geben, bei der das Wahlvolk mit Ja zum Verbleib in der EU stimmen könnte. Premier David Cameron zerpflückte jedoch im Unterhaus dieses »Durch Nein zum Ja«-Hirngespinst. »BoGo«, wie Johnson jetzt etwas spöttisch von seinen Gegnern genannt wird, gab wenig später in einem Interview mit der »Times« zu, dass es keine zweite Abstimmung geben werde: Nein zur EU am 23. Juni heißt Austritt und damit basta.

Die Befürchtungen der Pro-EU-Seite über eventuelle Folgen kümmern ihn nicht: Die Industrie macht sich Sorgen um die Märkte und das schwierige Aushandeln neuer Verträge mit den früheren Partnern sowie der Welt jenseits der grünen Insel, die Gewerkschaften befürchten einen Sozialkahlschlag von Konservativen, die bisher EU-geschützte Rechte nach einem Austritt mit Füßen treten könnten. Wichtige Gruppen sind damit von Johnsons Schritt alles andere als entzückt. Warum riskiert er nun auch noch die Feindschaft des erbitterten Premiers?

Der Ehrgeiz des 51-jährigen Johnson ist legendär. Die Spatzen pfeifen seit Jahren von den Londoner Dächern, dass er sich berufen fühlt, anstelle der EU-Befürworter - etwa Finanzminister George Osborne oder Innenministerin Theresa May - Cameron zu beerben. In der Tat kann Johnson auch Erfolge vorweisen. Seine Wahl zum Oberbürgermeister in der eher links gesinnten Hauptstadt verdankte er zwar der damaligen Unbeliebtheit von Gordon Browns Labour-Regierung, aber die Wiederwahl 2011 gegen Labours ehemaligen Stadtvorsteher Ken Livingstone zu einem Zeitpunkt, an dem die neu gewählte konservativ-liberale Koalition im Lande bestenfalls als umstritten galt, ging klar auf Johnsons Konto. Bei der EU-Abstimmung hat sein Wort Gewicht, denn auf der Beliebtheitsskala rangiert er mit 32 Prozent vor Labour-Chef Jeremy Corbyn mit 27 und nur hinter Cameron selbst (44 Prozent). Johnsons Nein ist damit ein Coup für die »Outers«.

Er ist einer der wenigen Politiker, deren Vorname beim Publikum schon eine Reaktion auslöst. Mit seiner blonden Mähne, seinem unbeholfenen Radfahren, den flapsigen Sprüchen entwaffnet er die meisten Kritiker. Der Busenfreund des Finanzestablishments hat dank liberaler sozialer Einstellungen bei Fragen der Gleichberechtigung, durch humorvolle Auftritte in Talk- und Quizshows und nicht zuletzt durch Schützenhilfe der Tory-Presse seine durchwachsenen Leistungen in der City Hall vergessen lassen. So glauben wohl die meisten Londoner, dass Johnson sowohl für den von Banken gesponserten Radverleih »Boris bikes« als auch für die Vergabe der Olympischen Spiele 2012 an seine Stadt verantwortlich war; tatsächlich waren beide das Verdienst des Vorgängers Livingstone.

Als der Tory-OB an einer Seilrutsche hilflos über dem Olympia-Gelände hing, lachte das ganze Land - aber mit, nicht über Johnson. Kein Wunder, dass viele Tories dem - zumindest angeblich - über den Parteien thronenden Johnson zu Füßen liegen. »Wenn Sie die Konservativen wählen, bekommt Ihre Frau größere Brüste und Ihre Chancen steigen, einen BMW M3 zu besitzen«, versprach der Witzbold im Wahlkampf 2005. »Die sektiererischste Religion ist die der Friedensbewegten«, gehört ebenso zu seinem Repertoire. Johnson sondert aber auch Sprüche ab, die Medienzar Rupert Murdoch entzücken müssten: »Wohin ist’s mit der BBC gekommen? Toiletten.«

Der angebliche »one-nation Tory«, der vom konservativen Blätterwald gefeiert wird, ist in Wahrheit jedoch ein strammer Rechter wie aus dem Bilderbuch des Elite-Internats Eton und des Oxforder Rüpelvereins Bullingdon Club. Das macht den Demagogen noch gefährlicher. Denn Cameron hat bereits angekündigt, bei der nächsten Parlamentswahl nicht mehr zu kandidieren. Fraktions- und Parteimitglieder haben sich in einen derartigen Hass gegen Europa gesteigert, dass nur ein eindeutiger »Outer« auf den Schild gehoben werden kann. Bei so vielen EU-Gegnern und unzufriedenen Ex-Ministern braucht es nur 50 Fraktionsmitglieder, um die Neuwahl des Tory-Chefs schon im Sommer 2016 zu ermöglichen, berichtete unlängst die »Sunday Times«.

Nicht die Antipathie gegenüber griechischen Olivenbauern oder die Angst vor Souveränitätsverlusten an einen angeblichen Brüsseler Superstaat bestimmen »BoGos« Europa-Politik. Es ist das schlichte Kalkül: Hier liegt der Königsweg zur Downing Street Nr. 10. Dafür würde Johnson die britische EU-Mitgliedschaft und eine von nicht wenigen befürchtete wirtschaftliche Katastrophe riskieren.

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