Atom-GAU ist wie Krieg
Ex-Premier kritisiert Japans Weg, erneut auf Atomkraft zu setzen
Als der Boden zu beben begann, war Naoto Kan im Parlament in Tokio. Das war am 11. März 2011 um 14.46 Uhr. Damals war Kan Japans Premierminister. »Wir bekamen übermittelt, dass alle Atomreaktoren planmäßig heruntergefahren wurden«, erzählt er. Um kurz nach 15 Uhr, »genau 16 Minuten später«: die Schreckensnachricht.
Ein von dem Erdbeben ausgelöster Tsunami hatte große Teile der japanischen Ostküste inklusive des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi metertief unter Wasser gesetzt. Zahlreiche Städte wurden zerstört, mehr als 15 000 Menschen starben. Das AKW wurde vom Stromnetz abgetrennt, die Kühlung der sechs Reaktoren unterbrochen. Jetzt, fünf Jahre später, sitzt Kan auf einer kleinen Bühne in der niedersächsischen Landesvertretung in Berlin und berichtet, wie das war, als Japan vor fünf Jahren in den Ausnahmezustand geriet.
Geladen hat der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). »Der Blick nach Japan ist für Deutschland wichtig, weil Japan wie Deutschland eine der führenden Industrienationen mit hohen technologischen Standards ist«, sagt Hubert Weiger, der Vorsitzende des Umweltverbandes. »Dass es dort zu mehreren Havarien gekommen ist, zeigt, dass auch Deutschland nicht sicher ist.«
Erst vor zwei Wochen hatte der BUND eine Studie zu den Sicherheitsrisiken der deutschen Atomkraftwerke veröffentlicht - und den Anlagen starke Mängel attestiert. Nur zwei der acht verbliebenen Reaktoren würden noch die regulären Sicherheitsprüfungen durchlaufen, die eigentlich alle zehn Jahre Pflicht sind. Ein AKW wird genau zehn Jahre nach seiner letzten Überprüfung abgeschaltet und steht deshalb nicht mehr auf der Liste. Die anderen fünf allerdings sind durch eine Sonderregelung von der Pflicht entbunden: Liegt die Abschaltung nur noch drei oder weniger Jahre in der Zukunft, darf die »Routineuntersuchung« ausbleiben.
Unvorhersehbare Extremsituationen können laut Studie die Sicherheitskräfte der deutschen AKW machtlos machen - auch wenn Deutschland keine Tsunami-Region ist. So seien einige der Anlagen nicht so für Erdbeben ausgelegt, wie es die Internationale Atomenergie-Organisation für Europa empfiehlt. Auch auf Extremwetterereignisse seien die AKW nicht vorbereitet, weil man solche für Deutschland als unwahrscheinlich einschätzt.
Der BUND sieht zudem Defizite bei der Kühlung der Lagerbecken, in denen verbrauchtes Uran aufbewahrt wird, und bei der Vorbeugung von Wasserstoffexplosionen. Atomkraftwerke seien außerdem mögliche Ziele von Terroranschlägen, sagt Weiger. »Die Ereignisse in Brüssel führen uns diese Gefahr wieder vor Augen«, so der BUND-Chef.
Auch Japans ehemaliger Premier Kan warnt davor, sich mit Atomkraftwerken sicher zu fühlen - so wie er einst. Der junge Naoto Kan war sogar geradezu Atomkraft-Fan gewesen. »Ich habe an der Universität Physik studiert und Technologie hat mich generell fasziniert - ich wollte eigentlich Wissenschaftler oder Ingenieur werden.« Bis zum letzten Moment war er von den Vorteilen der Atomkraft und von der Unfehlbarkeit der menschlichen Ingenieurskunst überzeugt. »Bis zum Vormittag des 11. März hätte ich Ihnen aus tiefstem Herzen gesagt, dass Atomkraft sauber, billig und sicher ist.« Seither kämpft er gegen den Einsatz der Risikotechnologie.
Innerhalb von vier Tagen kam es im März 2011 in vier Blöcken in Fukushima zur Kernschmelze und zu Wasserstoffexplosionen. Die Geigerzähler explodierten förmlich. Hunderttausende mussten evakuiert werden. Naoto Kan bewirkte die Abschaltung aller japanischen AKW, leitete den permanenten Atomausstieg bis 2030 ein. Die Krise kostete ihn jedoch seinen Posten. Sein Nachfolger, ebenfalls von der Demokratischen Partei, verfolgte die Pläne für ein atomkraftfreies Japan zwar noch weiter, doch der jetzige konservative Premier Shinzo Abe ist Atomkraft-Freund. Mittlerweile laufen wieder mehrere AKW, zwei neue befinden sich in Bau.
Unverantwortlich findet das Kan. »Diese Katastrophe hat unser Land destabilisiert wie ein großer Krieg«, meint er. Die Risiken könne nichts aufwiegen - auch nicht das Argument, dass die im Vergleich zu Kohlekraftwerken emissionsarmen AKW die Welt vor einer Klimakatastrophe bewahren könnten. »Wir müssen aus der Atomenergie aussteigen und gleichzeitig die CO2-Emissionen senken«, sagt er. Deshalb hat er nach der Katastrophe ein japanisches Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht. In fünf Jahren könne Japan 20 Atomkraftwerke durch erneuerbare Energien ersetzen. »Ich bin überzeugt, dass das geht.« Er schiebt nach: »Es wird gehen müssen.«
Auch Irina Gruschewaja vergleicht einen Atom-GAU mit einem Krieg. Die Bürgerrechtlerin aus Belarus will in Berlin an die Atomkatastrophe erinnern, die sich 1986 in der Ukraine abspielte. »Ein GAU ist ein Krieg gegen das Leben«, meint sie.
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