Ein Blick zurück aus der Zukunft
Die größten rentenpolitischen Versäumnisse der Großen Koalition
Rosige Zeiten - so scheint es - sind für die RentnerInnen in Ost und West angebrochen: Am 1. Juli 2016 werden die Renten im Westen um 4,25 und im Osten um 5,95 Prozent steigen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass aktuell 15,6 Prozent aller älteren westdeutschen und zwölf Prozent aller ostdeutschen Menschen über 65 Jahren von weniger als 917 Euro im Monat leben müssen und damit offiziell als arm gelten. Die guten Nachrichten dürfen auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ostdeutsche Eckrentnerin nach 45 Beitragsjahren immer noch 966 Euro weniger Rente im Jahr erhält als eine vergleichbare Rentnerin im Westen. Ob Ministerin Andrea Nahles jetzt den längst überfälligen Schritt gehen und die Rentenlücke 27 Jahre nach dem Mauerfall endlich schließen wird, steht immer noch in den Sternen.
Minirenten unter dem Existenzminimum sind schon heute Realität und die Altersarmut breitet sich Jahr für Jahr immer weiter aus, vor allem in Ostdeutschland! Viele junge Erwachsene, das hat eine aktuelle Umfrage der IG Metall ergeben, schauen deshalb voller Sorge in die Zukunft: Drei Viertel von ihnen gehen nicht davon aus, dass ihre Rente einmal reichen wird. 60 Prozent der jungen Generation bekundeten zudem, wenig oder kein Vertrauen in die Rentenversicherung insgesamt zu haben.
Wagen wir deshalb einen Blick in die Zukunft und begeben uns auf eine rentenpolitische Zeitreise ins Jahr 2031: Der geburtenstärkste Jahrgang 1964 darf dann als erster seines Zeichens nicht mehr ab 65 und auch nicht ab 66, sondern erst ab 67 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Franz Münteferings (SPD) Rentenbetrug zeigt seine maximale Wirkung.
Und nicht nur das: Bis dahin wird auch das Rentenniveau - also das Verhältnis einer Durchschnittsrente zum Durchschnittslohn - im Keller angekommen sein. Jahr für Jahr wird die Rentenanpassung wegen der Kürzungsfaktoren, die nach Walter Riester (SPD) benannt wurden (»Riester-Faktor«) oder sich nachhaltig schimpfen (»Nachhaltigkeitsfaktor«), hinter der Lohnentwicklung zurückbleiben. 44 Prozent wird das sogenannte Sicherungsniveau vor Steuern dann nur noch betragen statt wie einst 53 Prozent im Jahr 2001, bevor SPD und Grüne es drastisch senkten. 53 Prozent, das galt und gilt unter allen Fachleuten als lebensstandardsicherndes Rentenniveau.
Statt nach 45 Jahren Durchschnittsverdienst knapp 2200 Euro Rente brutto werden durchschnittlich verdienende Beschäftigte im Jahre 2031 gerade einmal 1800 Euro Rente erhalten. 400 Euro weniger, um zum Beispiel Miete, Krankenversicherung, Medikamente, Theaterkarten, Kaffee, Bier, Benzin, Geschenke für die Enkel und Gartengeräte zu bezahlen.
In Österreich ist man einen anderen Weg gegangen. Dort hat man die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung beziehen Neurentner nach 35 bis 45 Jahren Beitragszahlung eine Rente von monatlich 1820 Euro. Ein vergleichbarer deutscher Rentner muss sich mit 1050 Euro Altersrente begnügen.
Denn die bundesdeutsche Koalition aus Union und SPD hat es nicht nur versäumt, den Verfall der gesetzlichen Rente zu stoppen, sondern sie hat auch erfolglos versucht, den Menschen einzureden, dass sie mit Riester-Renten und - viel zu oft komplett selbst finanzierten - Betriebsrenten (Entgeltumwandlung) die Lücke von 400 Euro hätten schließen können.
Viele Durchschnittsverdienende wollen ihr Geld aber nicht in renditeschwache, riskante und vor allem teure und undurchsichtige Policen von Versicherungskonzernen stecken. Geringverdienende können es zudem gar nicht, ihnen fehlt schlicht das Geld für die Beiträge. Außerdem wäre es vergebliche Mühe, denn solche private oder betriebliche Vorsorge würde voll auf die »Grundsicherung im Alter« angerechnet werden, wenn alle Einkommensquellen auch in der Summe unter der Grundsicherungsschwelle liegen sollten. Die liegt derzeit durchschnittlich bei 788 Euro, inklusive aller Wohnkosten.
Auch auf ein zweites Versprechen werden die Menschen im Jahr 2031 enttäuscht zurückschauen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte in jedem Wahlkampf die Angleichung der Renten im Osten an das Westniveau zugesagt. Das haben CDU/CSU und SPD bis heute aber nicht hinbekommen. Immer wieder hat die Große Koalition die Menschen vertröstet und nie gehandelt. Dabei gibt es einen ausgearbeiteten Vorschlag des Bündnisses für die Angleichung der Renten in den neuen Bundesländern, zu dem die Gewerkschaften ver.di, EVG, GEW, GdP, die Sozialverbände Volkssolidarität und SoVD, der deutsche Beamtenbund sowie der Bundeswehrverband gehören. Die LINKE hat diesen Vorschlag der steuerfinanzierten stufenweisen Angleichung leicht modifiziert in den Bundestag eingebracht.
Nach den Wahlen erklären alle anderen Parteien immer wieder, warum nichts geschieht. Dabei wäre es ganz einfach: Der Rentenwert (Ost) in Höhe von 28,66 Euro würde am 1. Juli auf den allgemeinen Rentenwert von 30,45 Euro angehoben. Und die Umrechnung der Ostgehälter in der Rentenversicherung (Anlage 10 Sozialgesetzbuch VI) würde so lange beibehalten, bis das Lohnniveau im Osten 96 Prozent des Westniveaus erreicht hat. In der Zwischenzeit würde die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung durch einen steuerfinanzierten Zuschlag ermöglicht, der in dem Maße weniger Steuergelder erfordern würde, wie sich die Lohnlücke zwischen Ost und West schließt.
Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro hat zumindest ein bisschen geholfen. Allein im Jahr 2015 stieg der Bruttodurchschnittslohn einer ostdeutschen Fachkraft von 2426 Euro brutto auf 2535 Euro und damit um 4,5 Prozent. Im Westen stieg er bei den FacharbeiterInnen nur um 1,7 Prozent. Bei den ungelernten ArbeitnehmerInnen erhöhte er sich innerhalb eines Jahres im Osten sogar um neun Prozent, im Westen immerhin um 2,3 Prozent. Man sieht, der gesetzliche Mindestlohn, für den die LINKE und die PDS weit mehr als 16 Jahre lang kämpfen mussten, wirkt, und zwar gerade bei den Schwächsten und gerade auch im Osten, so niedrig er aktuell auch noch ist.
Aber um an der Benachteiligung der ostdeutschen RentnerInnen etwas zu ändern, reichen 8,50 Euro noch lange nicht aus. Die ungelernte, vollzeitbeschäftigte Angestellte aus dem Osten kommt derzeit nach 45 Jahren gerade mal auf 912,50 Euro Rente und die vergleichbare Westdeutsche auf 977,08 Euro.
Beide Renten reichen kaum zum Leben. Deshalb habe ich Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gefragt, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein müsste, damit man im Alter nicht aufs Sozialamt gehen muss. Die Antwort war nicht 8,85 Euro und auch nicht 10 Euro. Sage und schreibe 11,50 Euro müsste ein Beschäftigter 45 Jahre lang verdienen - also von 22 bis 67, um im Alter nicht auf das heutige Rentner-Hartz-IV angewiesen zu sein!
Auch die sogenannte Lebensleistungsrente (das »solidarisch« wurde vom Konzept der LINKEN übernommen), die Ministerin Nahles versprochen hatte, lässt die meisten armen Rentnerinnen und Rentner im Regen stehen. Die im Koalitionsvertrag genannten 40 Beitragsjahre als Zugangshürde sind viel zu hoch und wer diese Hürde schaffen sollte, wird nach den heutigen Plänen nur bei 30 Entgeltpunkten Rente landen. Das wären ab Juli netto gerade einmal 766,94 Euro im Osten und 814,88 Euro im Westen. Das hat mit der Bekämpfung von Altersarmut nichts zu tun, denn im Westen liegt die durchschnittliche »Grundsicherung im Alter« heute gerade mal 25 Euro darunter. Die »Lebensleistungsrente« spricht ihrem Namen Hohn und würde kaum einer Rentnerin oder einem Rentner den Gang zum Sozialamt ersparen.
Nein, nicht rosige Zeiten, sondern Versäumnisse, soweit das Auge reicht: Den Verfall des Rentenniveaus haben die jeweiligen Regierungen nicht gestoppt, der gesetzliche Mindestlohn ist viel zu niedrig, die Ostrenten weiter nicht an das Westniveau angeglichen.
Ganz anders sähe der Rückblick aus, wenn sich die zentralen Forderungen der LINKEN durchgesetzt hätten: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der vor Altersarmut schützt. Ein Rentenniveau von 53 Prozent, das im Alter den Lebensstandard sichert. Eine Solidarische Mindestrente, die dafür sorgt, dass niemand im Alter von weniger als 1050 Euro netto leben muss. Und eine vollständige Angleichung der Ostrenten bis zum Jahr 2020. Dies alles ist finanzierbar, vor allem dann, wenn die ArbeitgeberInnen wieder die Hälfte der insgesamt notwendigen höheren Beiträge übernähmen. Und wenn alle Reichen und Superreichen deutlich mehr Steuern zahlten, könnte auch der Bundeszuschuss der Gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden.
Dann hätten die Rentnerin und der Rentner schon lange Jahre in Deutschland so gut gelebt, wie es ihre AltersgenossInnen in Österreich aktuell tun.
Matthias W. Birkwald ist rentenpolitischer Sprecher der LINKE-Bundestagsfraktion.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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