Signale aus Münchens Unterwelt
Erstmals gibt es ein flächendeckendes seismisches Messprogramm für eine Millionenstadt - es geht um Erdwärme
Würmtalstraße 131 in München gegen 11 Uhr vormittags. Die Szene erinnert irgendwie an einen Science-Fiction-Film: Im Schritttempo bewegt sich ein Konvoi aus drei weißen Spezial-Lastwagen auf der Straße vorwärts. Nach 50 Metern stoppen die Fahrzeuge und aus ihrer Mitte heraus senkt sich jeweils eine Art Stempel auf den Erdboden herab - eine Tonne schwer. Auf Sekundenbruchteile genau abgestimmt beginnen diese Stempel gemeinsam zu vibrieren, genau zehn Sekunden lang. Wer in der Nähe der Fahrzeuge steht, bekommt diese Schwingungen unmittelbar mit, der Boden vibriert unter den Füßen und dies überträgt sich auf den ganzen Körper.
Dann wird der Stempel wieder hochgefahren, die Motoren brummen auf, der Konvoi setzt sich wieder in Bewegung und steuert den nächsten Messpunkt an. Erneut wiederholt sich der ganze Vorgang, während vor und hinter dem Konvoi Männer mit Schutzwesten die Fahrzeuge absichern. Für die meisten Zuschauer ein äußerst rätselhaftes Geschehen.
Erdwärme ist eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle. In Deutschland wird sie bisher vergleichsweise wenig genutzt. Doch ihre Erschließung ist aufwendig und nicht ohne Risiken. Dazu gehören insbesondere mögliche Verunreinigungen von Grundwasser und Fehleinschätzungen bei der geologischen Bewertung des Untergrundes, die zu Beben führen kann. nd
Was die Passanten hier im Münchner Westen beobachten können, ist sozusagen das Herzstück des seismischen Verfahrens, also einer geophysikalischen Erkundung des Untergrunds unter Verwendung von künstlich erzeugten Bodenschwingungen. Und es ist eine Premiere. »Es ist das erste Mal, dass ein derartig flächendeckendes Messprogramm in einer Millionenstadt durchgeführt wird«, sagt Stephan Schwarz, Geschäftsführer Technik und Versorgung bei den Münchner Stadtwerken.
Den Bewohnern der bayerischen Landeshauptstadt hatte sich das Messverfahren schon seit Monaten angekündigt, stießen sie doch allenthalben auf orangenfarbige Kabel, die kreuz und quer durch die Stadt verlegt wurden, über Bäume und Ampeln, durch Gebüsch und entlang von Zäunen. »Wir wollen wissen, wie der Boden beschaffen ist«, erklärt Andreas Schuck, Geophysiker der Firma GGL, das Ziel der Messung. Das seismische Messverfahren dient dazu, eine genaue dreidimensionale Karte des Untergrundes bis in drei Kilometern Tiefe zu bekommen. Der Zweck: Die Stadt München plant mit Hilfe einer solchen Karte Bohrungen für ein Geothermie-Kraftwerk. Im oberbayerischen Erding kommt die Erdwärme aus der Tiefe bereits zum Einsatz, auch in Unterhaching bei München. Jetzt will auch die Landeshauptstadt selbst diese Energie nutzen. »Wir wollen unsere Fernwärme auf regenerierbare Energien umstellen«, sagt Stadtwerke-Manager Schwarz.
Die Region in und um München herum ist nach Ansicht von Experten besonders gut für Geothermie-Projekte geeignet, denn hier findet sich in einer noch wirtschaftlich erreichbaren Tiefe von 2500 bis 4000 Metern heißes Wasser in den Kalksteinschichten. Holt man dieses über Bohrungen nach oben, so lässt es sich auf nachhaltige Weise über Wärmetauscher zum Heizen (über ein Fernwärmenetz) oder auch über Turbinen zur Stromproduktion einsetzen.
Aber es ist ein aufwendiges Verfahren, das dabei zum Einsatz kommt. Am Anfang steht das Einholen der notwendigen Genehmigung beim Bergamt und den Naturschutz-, Wasser- und Straßenbehörden. Benötigt wird auch die Erlaubnis der Eigentümer und Pächter zum Betreten der Grundstücke. Zur Erkundung gehört auch, dass im betreffenden Gelände mehrere Tausend sogenannte Geophone ausgebracht werden, die untereinander durch die orangenfarbenen kilometerlange Kabel verbunden sind. »Die meiste Arbeit steckt in der Verteilung und Verkabelung der Geophone«, sagt Geophysiker Schuck. 2500 davon sind eingeschaltet, wenn die Vibro-Fahrzeuge mit dem Rütteln beginnen.
Die seismische Methode funktioniert so ähnlich wie ein Echolot. Von den Vibratoren, das sind die Stempel unter den weißen Lastwagen, werden Schwingungen in die Tiefe ausgesendet, die von den Gesteinsschichten in unterschiedlicher Weise reflektiert werden. Die im Boden steckenden Geophone registrieren ähnlich wie hochempfindliche Mikrophone diese zurückgeworfenen Schwingungen und leiten sie an einen zentralen Messwagen weiter.
Dort werden die Messungen aufgezeichnet und zu einer Untergrund-Karte zusammengesetzt. »So können wir Brüche oder Verschiebungen im Gestein feststellen und den idealen Standort für eine Probebohrung bestimmen«, erklärt der Geophysiker den Nutzen. Was folgt, ist die Auswertung und die Interpretation der gewonnen Daten.
Ein Geophon ist ein unscheinbares kleines Plastikteil, von dem links und rechts Kabel weggehen und das mit einem Dorn in der Erde verankert ist. Gemessen werden damit Vibrationen von 12 bis 96 Hertz. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass Tiere oder landwirtschaftliche Fahrzeuge die Dinger aus dem Boden ziehen - dann muss der Reparaturtrupp ausrücken.
Szenenwechsel in die Kienbergstraße: Hier steht der fahrbare Messwagen, quasi das »Gehirn« der Messanlage. Im Inneren sitzen die Mitarbeiter und blicken auf diverse Flachbildschirme. Dort wird jeder Rüttler der Vibratoren angezeigt und aufgezeichnet. So kann man mit ansehen, wie sich die Vibrationen von der Quelle aus im Untergrund verbreiten. Die Quelle ist dabei der momentane Standort des weißen Konvois.
Vom Messwagen aus werden auch die Vibratoren ferngesteuert, so können sie gleichzeitig aktiviert werden. Auf einem anderen Bildschirm ist schließlich dann das Echo der seismischen Wellen zu sehen - auf diese Weise entsteht die dreidimensionale Karte des Untergrundes. »Damit kann man exakt bestimmen, wo die Bohrungen niedergebracht werden, wo eine Bohrung erfolgreich verlaufen wird«, sagt Andreas Schuck. Die Experten versichern, dass die Schwingungen keine Gefahr für Gebäude darstellen. Bei den ausgelösten Schwingungen orientiere sich die Mess-Crew am untersten Grenzwert, der zum Beispiel in Hinblick auf denkmalgeschützte Bauten gilt.
Die erste Auswertung der Messergebnisse soll bis Ende des Jahres fertig sein. Die Planung: Noch vor der Heizperiode 2019/20 soll die Geothermieanlage in Betrieb gehen, bei einem ähnlichen Projekt in Freiham soll sogar schon dieses Jahr geothermische Fernwärme in das Fernewärmenetz eingespeist werden. Insgesamt sollen bis 2040 an die 16 Geothermie-Anlagen betriebsfertig sein und so die Fernwärme für die Region dann zu 100 Prozent aus regenerierbaren Energiequellen stammen.
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