Hugo Haase
Kalenderblatt
Er sei ein Melancholiker gewesen, schrieb Sebastian Haffner über den früheren SPD-Vorsitzenden Hugo Haase. Einer, dessen lebenslängliche Rolle es gewesen sei, überstimmt zu werden und sich der Mehrheit fügen zu müssen. Am 4. August 1914 war ihm die traurige Rolle zugefallen, im Reichstag - entgegen seiner Überzeugung - im Namen der Fraktion zu erklären: »Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen … Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich.« Vor hundert Jahren aber, am 24. März 1916, als im Reichstag zum wiederholten Male der Kriegshaushalt bestätigt werden sollte, zeigte er Rückgrad.
Von »Sturmszenen«, wie sie im Reichstag noch nie erlebt worden seien, »ebenso leidenschaftlich als beschämend und beklagenswert«, berichtete tags darauf der »Vorwärts«. Und Erich Mühsam, Dichter und Anarchist, notierte in sein Tagebuch: »Alles, was ich in den letzten Tagen hier zu notieren gedachte, tritt in den Hintergrund gegen das, was sich gestern im Reichstag abgespielt hat.« Zu einem Skandal sei es gekommen, unter den SPD-Abgeordneten, zur offenen Spaltung der Fraktion: »Nachdem Scheidemann die Erklärung abgegeben hatte, dass die Partei, vorbehaltlich ihrer Entscheidung zum Hauptetat dem vorläufigen ›Notetat‹ die Zustimmung geben werde, nahm Haase das Wort, um eine sehr scharfe Rede dagegenzuhalten… Er sprach aus, was jeder Mensch ganz genau so gut weiß wie er selbst: nämlich, dass Not und Entbehrung im Lande herrsche, und dass schleunigst Frieden gemacht werden müsse, da es in diesem Kriege Sieger oder Besiegte doch nicht geben werde. Bei diesen Worten tat sich ein Orkan der Entrüstung auf, und bei der Abstimmung, ob Haase das Wort entzogen werden solle, stimmten außer allen bürgerlichen ›Volksvertretern‹ viele Sozialdemokraten dafür. Dann beschloss die Fraktion, Haase ebenso wie Liebknecht außerhalb der Fraktion zu stellen, weil er angeblich Treubruch begangen habe.«
Ein Vorgang, der auch aus heutiger Sicht unfassbar erscheint: Der neben Friedrich Ebert gleichberechtigte zweite Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der sich auf gültige Parteitagsbeschlüsse berufen kann, hält im Parlament eine Rede gegen den blutigsten Krieg, den die Welt bis dahin kennt. Und was passiert? Er wird er von seinen eigenen Fraktionskollegen unterbrochen und beleidigt (»Landesverräter!«). SPD-Abgeordnete stimmen gemeinsam mit den Nationalen, Konservativen und Liberalen dafür, dass ihrem Parteivorsitzenden im Plenum das Wort entzogen wird.
An jenem 24. März 1916 begann das große Schisma der Sozialdemokratie, das bis heute anhält. Haase und die 17 Fraktionsmitglieder, die mit ihm gegen den Kriegsetat gestimmt hatten, wurden vor die Tür gesetzt. Sie gründeten im Jahr darauf, Ostern 1917 die USPD.
Karsten Krampitz
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.