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Die dritte Intifada

Der Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung und den Zustand der Kein-Staat-Lösung geht weiter

  • Katja Hermann
  • Lesedauer: 8 Min.
Dr. Katja Hermann ist Leiterin des Asien- und Nahostreferates der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Von 2012 bis 2016 leitete sie das Regionalbüro Palästina der RLS mit Sitz in Ramallah. Unsere Autorin hat Islam- und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin studiert.

Auch ein halbes Jahr nach Beginn des neuerlichen Aufstandes in Palästina scheint kein Ende in Sicht. Weiterhin gibt es Demonstrationen in den Dörfern und Städten des Westjordangebiets, nahe der Checkpoints und vor den Gefängnissen, und beinahe täglich greifen hauptsächlich jugendliche Palästinenser Israelis mit Messern an. Seit Oktober sind dabei 193 Palästinenser, 28 Israelis und vier Ausländer getötet worden. Fast 16 000 Palästinenser und 360 Israelis wurden verletzt; 2400 Palästinenser sind verhaftet worden. Obwohl die Angriffe weiterhin unorganisiert und keiner erkennbaren Strategie zu folgen scheinen, hat sich vor Ort mittlerweile der Begriff der »Dritten Intifada«, eines Aufstandes also, dafür durchgesetzt. Alle bisherigen Versuche der israelischen Politik, dieses Aufbegehren zu beenden - durch die sofortige Tötung der Attentäter, die Zerstörung der Häuser ihrer Familien sowie durch Verhaftungswellen - liefen bisher ins Leere.

Die Hintergründe des Aufstandes liegen in der tagtäglichen Gewalt, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist, der jahrzehntelangen Besatzungsrealität, deren Strukturen und Auswirkungen bekannt sind und bis ins kleinste Detail analysiert vorliegen: Entrechtung und Enteignung, gewalttätige Übergriffe und Zerstörungen, Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren sowie weitreichende Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Westjordanland bis hin zum kompletten Einschluss im Gazastreifen, um nur einige Aspekte zu nennen. Dazu kommen die regelmäßigen militärischen Interventionen im Gazastreifen, zuletzt im Sommer 2014, mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung des seit Jahren abgeriegelten Küstenstreifens.

Intifada

Intifada ist das arabische Wort für Aufstand, gebräuchlich geworden ist es für die aktuellen Erhebungen der Palästinenser gegen Israel. Als erste Intifada gilt der 1987 begonnene »Krieg der Steine« vornehmlich palästinensischer Jugendlicher im Gaza-Streifen gegen die israelischen Besatzer. In den folgenden fünf Jahren wurden dabei etwa 1200 Palästinenser und 160 Israelis getötet.
Die zweite Intifada, die von den Palästinensern als Al-Aqsa-Intifada bezeichnet wird, begann im September 2000, nachdem der spätere israelische Ministerpräsident Ariel Scharon die Muslime mit dem Betreten des ihnen heiligen Tempelberges in Jerusalem provoziert hatte. Es gibt keine verlässlichen Opferzahlen. Eine UN-Untersuchung nannte bis 2005 etwa 3600 palästinensische sowie 510 israelische Todesopfer in allen besetzten palästinensischen Gebieten, also Gaza, Ostjerusalem und Westjordanland sowie in Israel selbst.

Insbesondere die israelische Siedlerbewegung hat sich in den letzten Jahren radikalisiert und führt immer brutalere Angriffe auf Palästinenser durch, denen besonders die Bewohner Hebrons und Jerusalems sowie der ländlichen Gebiete schutzlos ausgeliefert sind. Dabei kann die Siedlerbewegung nicht nur auf die Unterstützung aller israelischen Regierungen bauen, sie weiß sich auch durch die öffentliche Meinung legitimiert. Seit dem Sommer häufen sich zudem die Aktivitäten radikaler Siedler im Umfeld des Haram al-Scharif, des Tempelberges in Jerusalem, was die ohnehin angespannte Lage weiter aufheizte. Trotz eines religiösen Elements liegt der Kern des Konfliktes aber nicht in der Religion, sondern in der seit einem halben Jahrhundert andauernden israelischen Besetzung von Westjordanland, Gazastreifen und Ost-Jerusalem.

In äußerlich ruhigen Zeiten wird die Besatzungssituation auf israelischer Seite ignoriert, verdrängt, spielt einfach keine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die internationale Gemeinschaft die politische Bearbeitung des israelisch-palästinensischen Konfliktes scheinbar aufgegeben und Palästina zu einer rein entwicklungspolitischen Herausforderung degradiert hat. Ungeachtet dessen sind das Leiden unter der Besatzung und die Suche nach einem Weg, diese zu beenden, weiterhin zentrales Momentum in der palästinensischen Gesellschaft.

Die palästinensische ist eine sehr junge Gesellschaft, und es sind die jugendlichen Palästinenser, die am meisten unter den leeren Versprechungen der Oslo-Abkommen von einem Leben im eigenen Staat, in Freiheit, Würde und Sicherheit, leiden. Sie können sich am wenigsten frei bewegen, weder innerhalb Palästinas, noch können sie nach Israel oder ins Ausland reisen. Ihre Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten sind begrenzt, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in der Altersklasse der 20- bis 24-Jährigen über 40 Prozent. Angesichts der Übermacht Israels, gescheiterter Verhandlungen, einer schwachen politischen Führung sowie ohne realistische Aussichten auf Veränderung, wollen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht länger abwarten, sondern die Dinge in die eigenen Hände nehmen.

Die »Intifada der Jugend« wird innerhalb der palästinensischen Gesellschaft als legitime Form des Widerstandes gegen das Besatzungsregime verstanden und stößt quer durch alle politischen Strömungen auf großes Verständnis und viel verbale Unterstützung. Gleichzeitig ist in den vergangenen Monaten eine kontroverse Debatte über Fragen von politischen Strategien und Verantwortlichkeiten entbrannt. Längst nicht alle heißen es gut, dass der gegenwärtige Aufstand gegen die Besatzungsmacht von jugendlichen, nicht politisch organisierten Akteuren getragen wird, von denen ein Drittel jünger als 20 Jahre ist. Vielmehr mehren sich die Stimmen, die den politischen Eliten des Landes Versagen vorwerfen, weil sie den Widerstand gegen die Besatzung den Jugendlichen überlassen, während sie selbst untätig zusehen.

Auch wenn diese Kritik nicht neu ist, so wurde sie bislang nur verhalten geäußert, viele scheuten sich vor der offenen Konfrontation mit der eigenen Führung. Lange hat das dazu geführt, dass keine wirkliche Auseinandersetzung stattfinden konnte und auch keine Organisation von Widerstand möglich schien - weder gegenüber Israel noch gegenüber der eigenen Führung. Das scheint sich derzeit zu ändern. Unabhängige Stimmen aus der Zivilgesellschaft kritisieren offen die Untätigkeit der palästinensischen Administration, ihre fortgesetzte Komplizenschaft mit Israel in Form der Oslo-Abkommen, ihre fehlende demokratische Verfasstheit und Legitimation, ihre unproduktiven internen Auseinandersetzungen, das System von Klientelismus und Korruption.

Mariam Barghouti, eine junge Wissenschaftlerin aus Ramallah, sieht die Intifada deshalb auch als Ausdruck eines Generationenkonfliktes zwischen der Jugend und den etablierten Eliten an. Die Jugendlichen würden gegen die Schwäche, Rückwärtsgewandtheit und Abhängigkeiten der politischen Eliten aufbegehren. Ihr Agieren sei deshalb nicht ausschließlich als ein Ausdruck von Verzweiflung, sondern auch als ein Zeichen aktiven Widerstandes zu verstehen. Barghouti plädiert dafür, dass sich die Eliten mit den Forderungen der Jugendlichen auseinandersetzen, anstatt sich hinter dem Aufstand zu verstecken, ohne sich selbst dafür einzusetzen, die Realitäten der Palästinenser zu verändern.

Auch Diana Buttu, palästinensische Menschenrechtsanwältin und politische Kommentatorin aus Haifa, macht das Versagen der palästinensischen Regierung für den Status quo verantwortlich. Sie vermisst klare Stellungnahmen und fordert das Establishment auf, sich angesichts der eskalierten Lage deutlich auf Seiten der Aufständischen zu positionieren. Auch sie treibt die Frage um, wie man den Aufstand konstruktiv nutzen und weiterentwickeln müsste, um wirkliche Veränderungen in Gang zu setzen. Sollte dies nicht gelingen und ließe man die Dinge einfach weiterlaufen, würden nur immer mehr Menschen sterben, befürchtet Buttu.

Sie ist wenig optimistisch, dass sich die Intifada unter den derzeitigen Bedingungen zu etwas Größerem entwickeln werde, da sie bislang weder von der politischen Führung, noch von den unterschiedlichen politischen Fraktionen, noch von der Zivilgesellschaft unterstützt würde. Buttu fordert die Entwicklung einer umfassenden politischen, diplomatischen, rechtlichen und medialen Strategie, um die palästinensische Sache angemessen zu kommunizieren. Lauter werden auch jene Stimmen in der Debatte, die selbstkritisch mit der palästinensischen Gesellschaft ins Gericht gehen und ihr vorwerfen, nicht zu verhindern, dass ihre Kinder ihr Leben opferten. Der Tenor ist überdeutlich: Niemand in Palästina möchte eine weitere Generation sterben sehen.

Auch die Debatte über die Sinnhaftigkeit und vor allem Wirksamkeit der neuen Intifada zeigt das Dilemma, in dem sich die Palästinenser derzeit befinden: Die Intifada geht weiter und ist längst mehr als nur ein Aufstand messerstechender junger Leute. Immer öfter greifen die Attentäter mittlerweile zu Schusswaffen oder Sprengsätzen, und inzwischen sind auch erwachsene Familienväter unter den Angreifern. Spätestens als im Januar zum zweiten Mal ein palästinensischer Sicherheitsmann israelische Soldaten angegriffen hatte und daraufhin die Stadt Ramallah - mit Sitz von Regierung, Ministerien, großen Firmen und internationalen Organisationen eine Art palästinensischer Hauptstadt - kurzzeitig abgeriegelt wurde, zeigte sich die Gefahr einer weiteren Eskalation in aller Deutlichkeit.

Noch scheint sich der Aufstand aber nicht zu einem Massenphänomen zu entwickeln, die breite Unterstützung bleibt bislang aus. Viele Menschen sind desillusioniert oder haben schlichtweg Angst, sich erneut in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit der Besatzungsmacht zu begeben. Gerade die ältere Generation, die zwei Aufstände (1987-1993 und 2000-2004) miterlebt hat, weiß um den Preis des aktiven Widerstands. Die regionalen Kriege und Krisen tun ihr übriges, um die Menschen zurückzuhalten, zu sehr fürchten sie eine weitere Eskalation.

Die politischen Parteien und Gruppierungen halten sich auffällig zurück und beschränken sich im Wesentlichen auf verbale Unterstützung. Die palästinensische Regierung stellt sich nicht hinter die Aufständischen, vielmehr hält sie an den Abkommen mit Israel, einschließlich der innergesellschaftlich hoch umstrittenen Sicherheitskoordination, fest. Präsident Mahmud Abbas versucht, ein Überschwappen des Aufstandes in die Reihen seiner Sicherheitskräfte zu verhindern, um ein Szenario ähnlich dem der zweiten Intifada zu vermeiden. Der innenpolitische Druck auf ihn wächst stetig. Noch jedoch hält das »System Oslo« und mit ihm die Palästinensische Autonomiebehörde.

Aber die Angst vor deren Kollaps nimmt zu. Je mehr Menschen gewaltsam sterben, desto größer wird der »Druck der Straße« - auf die palästinensische, aber auch auf die israelische Regierung, eine weitere Eskalation wäre dann höchst wahrscheinlich. Die dritte Intifada ist ein erneutes Signal an Israel, dass die Palästinenser nicht bereit sind, die Besatzung tatenlos hinzunehmen. Sie ist zudem eine Warnung an die palästinensische Führung sowie an die gesamte palästinensische politische Szene, dass die Zeit der Stagnation und des Abwartens vorbei sein muss.

Schließlich ist die Intifada auch ein Weckruf an die internationale Gemeinschaft, sich für eine gerechte und nachhaltige Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes einzusetzen, die ein Ende der Besatzung sowie Freiheit und Selbstbestimmung der Palästinenser zur Grundlage hat. Die Palästinenser selbst haben ihre Bemühungen um Versöhnung zwischen Fatah und Hamas wieder aufgenommen, während aus dem Ausland versucht wird, mit neuen Initiativen Verhandlungsprozesse zu reaktivieren; derzeit von Seiten Frankreichs sowie des Nahostquartetts, bestehend aus der EU, Russland, der UNO und den USA. Die Menschen vor Ort sehen dies äußerst skeptisch. Zu oft haben sie in den letzten Jahrzehnten das Scheitern aller derartigen Initiativen erleben müssen.

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