Es geht ums Bleiben

Der Journalist Christian Jakob erzählt in einem Buch, wie Geflüchtete bereits seit zwei Jahrzehnten das Land verändern

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.
Wegbereiter der »Willkommenskultur« war nicht Merkel. Flüchtlinge selbst übernahmen das. Davon, wie sie seit Jahren das Land verändern, erzählt Christian Jakob in seinem Buch »Die Bleibenden«.

In diesen Tagen kann es dem interessierten Leser schon mal zu viel werden. Müde von den hysterischen Debatten über die »Flüchtlingskrise«, mag man kaum noch einen Blick in die Neuerscheinungen zum Thema »Flucht« oder »Migration« werfen. Man sollte es aber unbedingt tun bei dem gerade erschienenen Buch »Die Bleibenden« des taz-Redakteurs Christian Jakob. Es ist vielleicht nicht der lauteste Beitrag zu dem aktuellen Thema, aber sicherlich einer, der bleiben wird, wenn die Aufregung abgeklungen ist.

Wie der Titel schon sagt, geht es ums Bleiben und vor allem darum, wie Flüchtlinge nicht erst seit dem Jahr 2015, sondern schon seit mindestens zwei Jahrzehnten Deutschland verändern. Sie haben mit Beharrungsvermögen und großem Einsatz selbst einen Grundstein dafür gelegt, dass es einen gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Einwanderung gegeben hat, der am deutlichsten im Herbst vergangenen Jahres mit der »Willkommenskultur« seinen Ausdruck fand.

Damit schafft Jakob etwas, das eigentlich naheliegend ist und doch im jetzigen Diskurs zu einem originellen Ergebnis führt - er ändert die Perspektive. Flüchtlinge sind nicht Objekte, Empfänger von Hilfsbereitschaft und guten (oder schlechten) Ratschlägen, nicht ein zu betrachtendes »Problem«. Sie sind handelnde Subjekte, politische Aktivisten.

Im ersten Teil seines Buches erzählt Jakob anhand von zwölf Reportagen die Geschichte des »langen Aufstandes« zwischen 1994 - in diesem Jahr gründeten fünf afrikanische Asylbewerber in Thüringen die Flüchtlingsorganisation »The Voice Refugee Forum« - und 2011. Jakob porträtiert Menschen, die sich auf verschiedenen Wegen gegen die Zustände gewehrt haben, in die sie gezwungen wurden. Die Unmenschlichkeiten des deutschen Asylrechts - Residenzpflicht, Arbeits- und Ausbildungsverbote, Kettenduldungen u.a. - werden vom Autor sehr konkret anhand der von ihnen Betroffenen erläutert.

Der zweite Teil, der die sich enorm dynamisch entwickelnde Bewegung von 2012 bis heute in den Blick nimmt, ist chronologisch aufgezogen. Es ist jene Zeit, in der das Thema »die Wahrnehmungsschwelle« der deutschen Öffentlichkeit durchbricht, 10 000 Menschen in Berlin gegen die Asylpolitik demonstrieren, Flüchtlinge von Würzburg aus durch die Republik nach Berlin marschieren und dort den Kreuzberger Oranienplatz besetzen.

Der Autor ist einer, der sich nicht erst seit vergangenem Sommer mit Flucht und Geflüchteten beschäftigt, sondern - im Gegenteil - das Feld schon beackert hat, als es selbst der »taz« nur selten eine Titelseite wert war. Dafür wurde Jakob 2015 für den Journalistenpreis »Der lange Atem« nominiert.

Dass heute etwas anders ist beim Umgang mit dem Thema, das ist auch der Ausgangspunkt des Buches. Ebenso die Feststellung, dass das »Septembermärchen« 2015, die Erzählung also, Deutschland habe plötzlich sein Herz für Flüchtlinge entdeckt, genau das ist - ein Märchen. Kein Märchen hingegen ist, »dass sich die Art und Weise verändert hat, wie dieses Land mit Migranten und Flüchtlingen umgeht« und diese Transformation »vor allem auch das Werk der Migranten und Flüchtlinge selbst ist«.

Im Grunde bestätigt der Autor, was zu den großen Narrativen von Pegidisten und AfD gehört: Dass Bestandteile von früher nur an den linken Rändern vertretenen Forderungen inzwischen diese Kreise verlassen haben. Slogans wie »Refugees welcome« und »Kein Mensch ist illegal« waren lange Zeit Erkennungsmerkmale einer überschaubaren Szene von Flüchtlingsunterstützern. Heute sind sie im Mainstream angekommen. Dabei ist Jakob keineswegs blind für die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, aber - gerade wegen seiner weit zurückreichenden Langzeitperspektive - optimistisch. Dass es »schwerste Konflikte um die Migrationsfrage« geben werde, müsse aushalten, wer es mit der offenen Gesellschaft ernst meine.

Jakobs Buch hätte auch schon vor einem Jahr erscheinen können, denn es erzählt in erster Linie eine Geschichte, die bereits früher stattgefunden hat. Im Kontext der seit Monaten stattfindenden, oft atemlosen Diskussionen zu dem Thema ist es ein wohltuender Einwurf, der wie nebenbei auch über die Entwicklung des deutschen Asylrechts, unterschiedliche Aufenthaltskategorien und europäische Migrationspolitiken informiert.

Christian Jakob: Die Bleibenden, Ch. Links Verlag 2016, 180 Seiten, 18 Euro

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