»Unsere Forderung bleibt der Nulltarif«

Letícia Cardoso über das Recht auf urbane Mobilität und die Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs in Brasilien

  • Lesedauer: 6 Min.

Die Erhöhung der Fahrpreise ist in Brasilien nach wie vor ein großes Thema und bringt immer wieder Zehntausende auf die Straße wie Anfang des Jahres in São Paulo. Unvergessen ist, dass 2013 eine Erhöhung der Fahrpreise zu den größten Protesten seit dem Ende der Militärdiktatur 1964-85 führten. Warum ist das Thema so wichtig in Brasilien?

Der öffentliche Nahverkehr trägt in Brasilien historisch eine große Bedeutung. Schon im 19. Jahrhundert kam es zu Aufständen, so zum Beispiel die »Revolte des Pfennigs«, bei der Bewohner von Rio de Janeiro gegen die steigenden Tarife der Straßenbahnen rebellierten. Das öffentliche Transportsystem ist so wichtig für die Menschen in Städten wie São Paulo, weil es dort kein Leben ohne urbane Mobilität und den Zugang zum Nahverkehr gibt. Die meisten Arbeiter wohnen in den Vorstädten und arbeiten im Zentrum. Sie müssen große Distanzen zurücklegen, um zur Arbeit zu kommen und ihren Lohn zu verdienen. Neben der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse, müssen sie arbeiten, um ihren Weg zur Arbeit zu finanzieren, selbst wenn sie vom Arbeitergeber Vergünstigungen für den Transport erhalten.

Wen treffen die Erhöhungen am stärksten?

Uns liegt eine Statistik des IPEA (staatliches Statistikinstitut, Anm. d. Red.) aus dem Jahr 2011 vor, die besagt, dass 37 Millionen Brasilianer keine Möglichkeit haben, den öffentlichen Nahverkehr zu bezahlen. In São Paulo sind mit der jüngsten Erhöhung von 3,50 auf 3,80 Reais (0,58 auf 0,93 Euro) rund 58 000 Menschen de facto vom Transport ausgeschlossen worden. Wenn diese nun beispielsweise ins Krankenhaus müssen, sind sie gezwungen, Geld beim Essen oder anderen Grundbedürfnissen zu sparen, um den Weg zu bezahlen. Am stärksten sind also die Bewohner der Peripherie betroffen sowie alle anderen einkommensschwachen Bürger. Vor allem aber leiden Menschen in informellen Arbeitsverhältnissen unter der Erhöhung. Diese machen in Brasilien einen großen Teil der Arbeiterschaft aus. Aufgrund ihrer informellen Beschäftigung haben sie keinerlei Anspruch auf Vergünstigungen der Transportsysteme und sind gezwungen, fast ein Drittel ihres Lohns für den Nahverkehr auszugeben.

Was sind die Forderungen der MPL?

Wir fordern die unmittelbare Rücknahme der Erhöhung. Allerdings kämpfen wir als linke, antikapitalistische Bewegung für ein »Recht auf Stadt«, das erst erfüllt ist, wenn der Nahverkehr kostenlos ist. Unsere Forderung bleibt der Nulltarif.

Aber ist ein Nulltarif wirklich denkbar? Gibt es Beispiele aus anderen Städten?

In Brasilien gibt es bereits zwölf Städte, wo der Nahverkehr kostenfrei ist. In der ganzen Welt sind es wohl 86 Städte. Wir glauben, dass der Nulltarif möglich ist. Er ist eine Frage der Prioritätensetzung. Der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo investiert Millionen in Repressionsorgane und behauptet gleichzeitig, dass es keine Mittel für den öffentlichen Nahverkehr und die urbane Mobilität gebe. Seine Priorität liegt darauf, diejenigen Menschen zu kriminalisieren, die für ihre Rechte kämpfen. Die Stadtverwaltung wiederum hat den großen Transportunternehmern mehr Gewinn zugesagt als im Vertrag festgelegt war. Anstatt die Gewinne der Unternehmen zu reduzieren, erhöht sie die Tarife auf Kosten der Arbeiter.

Gouverneur Geraldo Alckmin und Bürgermeister Fernando Haddad haben die Erhöhung mit der hohen Inflationsrate begründet. Was halten Sie von dieser Argumentation?

Alckmin und Haddad haben erklärt, dass die Erhöhung mit 8,6 Prozent unter der Inflationsrate von fast elf Prozent lag, und sehen sich damit im Recht, eine solche Erhöhung durchzuführen. Dies ist ein technisches Argument, um die großen Unternehmer in Schutz zu nehmen. Der Stadtverwaltung stehen großen Geldsummen zur Verfügung, die für die Erhöhung der Subventionen des Nahverkehrs genutzt werden könnten. Diese sind im Vergleich zu anderen Ländern sehr niedrig. Der öffentliche Nahverkehr wird in Brasilien aber leider nicht als Recht betrachtet.

Sie haben die Vermarktung der Stadt angesprochen. Auch in anderen Städten rund um die Welt wird der Nahverkehr zunehmend kommerzialisiert. Wie drückt sich dies in São Paulo aus?

Der Transport wird wie eine Ware behandelt, die Transportunternehmer machen Umsatz mit jeder Person, die das Drehkreuz passiert. Zusätzlich gewinnen sie mit seiner Prekarisierung. Uns liegen Daten vor, dass von zehn geplanten Bussen zwei nicht losfahren. So erhöhen sich die Umsätze um rund 18 Prozent mit Bussen, die nicht fahren. Dies bedeutet, dass die ohnehin schon überfüllten Busse noch voller werden. Mit dem kollektiven Leiden und der Demütigung der Fahrgäste werden also Gewinne gemacht. Der Profit steht im Fokus und nicht das Wohlergehen und die Rechte derjenigen Menschen, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen sind.

Die MPL hat alleine in diesem Jahr sieben Demonstrationen durchgeführt. Wird die MPL auch mit der Stadt- und Landesverwaltung in den Dialog treten?

Wir glauben, dass der Dialog auf der Straße geschieht. Wir haben Ende Januar eine öffentliche Versammlung vor der Stadtverwaltung veranstaltet und sowohl Gouverneur als auch Bürgermeister dazu eingeladen. Beide sind nicht erschienen. Wir haben versucht, mit ihnen zu diskutieren, aber sie haben kein Interesse an dem Dialog mit der Bevölkerung gezeigt. Auf Gespräche hinter geschlossenen Türen lassen wir uns nicht ein, denn wir sind nicht der Eigentümer des Kampfes für kostenlosen Nahverkehr. In der Stadt gibt es viele andere Bewegungen, die sich der Frage des Transports widmen. Der Tarif muss mit der gesamten Bevölkerung diskutiert werden.

Steht die Bevölkerung hinter euren Forderungen?

Davon ist auszugehen, weil sie täglich unter dem öffentlichen Nahverkehr zu leiden hat. Immer wieder kommt es zu einem Totalausfall in einer der Bahnlinien. Jeden Tag herrscht Chaos: Die Züge sind überfüllt, gehen während der Fahrt kaputt, die Preise sind hoch. Die Menschen spüren dies in ihrem Alltag und unterstützen deshalb unsere Anliegen. Es ist kein Leben in der Stadt vorstellbar ohne den Nahverkehr.

Was stellt ihr euch eine demokratische und gerechte Stadt vor?

Für uns ist dies eine Stadt, in der die Bewohner die Möglichkeit haben, sich zu bewegen und Zugang zu ihren grundlegenden Rechten haben. Wenn wir als Nulltarifbewegung vom »Recht auf Stadt« sprechen, meinen wir auch den Zugang zu Gesundheit, Bildung, Freizeit- und Sportmöglichkeiten sowie Kultur. In der Stadt zu leben, muss heißen, die Möglichkeit zu haben, von allen diesen Rechten Gebrauch zu machen. Zudem muss es möglich sein, sich zu organisieren - indirekt werden viele Menschen bereits durch das Drehkreuz in der U-Bahn oder im Bus daran gehindert. Es kann nicht sein, dass man nicht an einem Treffen oder einer Veranstaltungen teilnehmen kann, weil man den Weg dorthin nicht bezahlen kann. Eine gerechte Stadt ist eine Stadt, die an den Bedürfnissen ihrer Bewohner ausgerichtet ist.

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