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Lebensmittel aus der Zuckerdose

Experten befürchten eine Dunkelziffer von zwei Millionen diabeteskranken Deutschen und fordern mehr Prävention

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Weltgesundheitsorganisation zufolge verursachte Diabetes 2012 rund 1,5 Millionen Todesfälle, die meisten davon und auch die höchste Anzahl von Erkrankungen treten in armen Ländern auf

Der heutige Weltgesundheitstag ist der Stoffwechselerkrankung Diabetes Typ 2 gewidmet. Aus diesem Anlass fordert die Deutsche Diabetes-Hilfe, eine Art Netzwerk für Betroffene, Pharmahersteller und Mediziner, zum wiederholten Mal eine nationale Strategie in dieser Frage - unter anderem zur besseren Prävention und Behandlung. Die gibt es bisher nicht.

Bei Diabetes mellitus handelt es sich um Unregelmäßigkeiten im Zuckerstoffwechsel. Verantwortlich ist das Hormon Insulin, das bei Typ 1 - einer Autoimmunkrankheit - absolut fehlt. Für den Typ 2, auch als Altersdiabetes bezeichnet, gelten verschiedene Formen von Insulinmangel oder -resistenzen als Ursache. Die Zahl der Erkrankten steigt. In Deutschland sind inzwischen 6,7 Millionen Menschen betroffen. Experten gehen davon aus, dass etwa zwei Millionen Menschen noch gar nichts von ihrer Krankheit wissen. Mit der Anzahl der Diabetiker steigen die Behandlungskosten, von 2000 bis 2009 um 24 Prozent auf 48 Milliarden Euro pro Jahr. Neuere Zahlen gibt es nicht, beklagt Thomas Danne von der Diabeteshilfe. Ein Register wäre nützlich - nicht nur, um Folgekomplikationen wie Tausende Amputationen, Erblindungen und Niereninsuffizienzen mit Dialysepflicht aufzulisten, die pro Jahr neu verursacht werden. »Ein Register brauchen wir auch, um endlich die besten Behandlungswege sicher erkennen zu können«, so Danne, der Chefarzt des Kinderkrankenhauses Auf der Bult Hannover ist.

Der sogenannte Altersdiabetes tritt bei immer jüngeren Patienten auf. Die Zahl der Diagnosen steigt auch durch den wachsenden Altersdurchschnitt der Gesellschaft. Da erhöhter Blutzucker keine Schmerzen verursacht und Folgen erst nach Jahren auftreten, wird das Problem oft erst sehr spät erkannt. Von den Patienten mit einem akuten Herzinfarkt hat in Deutschland ein Drittel schon die »Zuckerkrankheit«, ein weiteres Drittel einen Prä-Diabetes, nur das letzte Drittel bleibt ohne Befund. Ein neuer, einfacher Test soll helfen, die unerkannten Fälle aufzuspüren. Er ist seit wenigen Tagen online unter www.2mio.de zu finden. Mit der Beantwortung weniger Fragen kann man das eigene Risiko für Diabetes bestimmen. Liegt die Punktzahl über 56, sollten die Nutzer zur weiteren Diagnose ihren Hausarzt aufsuchen.

Eigentlich sollte Diabetes im Gesundheits-Check-up 35, den jeder gesetzlich Versicherte alle zwei Jahre machen kann, aufgespürt werden. Doch da versagt dieser 30 Jahre alte Check-up. Er enthält zum Beispiel keinen Langzeitblutzuckertest zur Ermittlung des HbA1c-Wertes. Die AOK Sachsen hat den für ihre Versicherten hinzugefügt, ebenso den neuen Onlinetest. Das sollte eigentlich für alle Kassen gelten, findet Ingrid Dänschel vom Deutschen Hausärzteverband e.V.. Sie fordert, den Langzeittest in die Regelversorgung aufzunehmen - jedoch nicht bei jedem Patienten, wie sie präzisiert. Zuvor könnte durch den genannten Fragebogen geklärt werden, für welche Patienten diese Ausgabe von bis zu vier Euro Laborkosten überhaupt nötig ist. Aus Dänschels Sicht wären die Kriterien Alter, Taillenumfang und familiäre Vorgeschichte ausreichend für eine Entscheidung. Doch eine Überarbeitung des Check-ups 35 ist vorerst nicht geplant.

Schon die Auseinandersetzung mit dem genannten Fragebogen setzt bei den Versicherten Aufmerksamkeit und Aktivität voraus, auch die Bereitschaft, am eigenen Lebensstil etwas zu ändern. Letztlich bleibt ein großer Teil der Verantwortung bei den Einzelnen - dieser bisher übliche Präventionsansatz lebt munter weiter, auch wenn es seit fast einem Jahr endlich ein entsprechendes Gesetz gibt, das die Bedingungen für die Krankheitsvermeidung verbessern soll. Momentan hängt das Verfahren bei den Bundesländern fest, die eigene Rahmenverordnungen entwickeln.

Die Politik begeistert sich an den sieben Euro pro gesetzlich Versichertem, die Krankenkassen jetzt für die Prävention ausgeben müssen. Doch mehr als Kampagnen, Broschüren oder Gesundheitskurse sind dafür nicht zu erwarten. Gesundes Schulessen oder Kochkurse bleiben Leuchtturmprojekte, engagierte Eltern und Schulen vorausgesetzt. Wer glaubt im Ernst, dass sich Eltern gegen den epidemischen Süßkramkonsum inklusive der Zuckerbomben in Form von Müslis, Joghurts, Ketchup oder Limonaden durchsetzen können? Der erfahrene Kinderarzt Thomas Danne jedenfalls nicht. Er erhebt vier grundsätzliche Forderungen: mindestens eine Stunde Bewegung täglich in Kindergarten und Schule, Besteuerung adipogener Lebensmittel (Zucker-Fett-Steuer) und Entlastung bei gesunden Lebensmitteln, verbindliche Qualitätsstandards für Kita- und Schulverpflegung und ein Werbeverbot für Essen, das Übergewicht fördert.

Diabetologen und andere Fachärzte scheinen mit ihren häufig vorgetragenen politischen Forderungen am kürzeren Hebel zu sitzen, während die Industrie die Zuckerdose ausschüttet. Danne versucht es noch mit einer neuen Idee: Er hofft, dass mit der Verlagerung des Verbraucherschutzes aus dem Landwirtschafts- in das Gesundheitsministerium bisherige Interessenkonflikte ausgeschlossen werden könnten.

Ältere Zahlen verstärken den Eindruck, dass es sich bei Diabetes Typ 2 um eine sogenannte Wohlstandserkrankung handelt. Lag ihre Häufigkeit in Deutschland 1945 noch unter einem Prozent, waren 1989 schon 4,8 Prozent der Bevölkerung betroffen, 2003 zwischen fünf und zehn Prozent. Im europäischen Vergleich steht Deutschland allerdings auf einem Spitzenplatz, der nur zum Teil der Altersstruktur geschuldet ist. In Nachbarländern wie Frankreich, den Niederlanden und Polen lag die Prävalenz 2013 knapp über 5 Prozent, deutlich höher in Spanien, Portugal und der Türkei - mit fast 15 Prozent. Über die Ursachen für diese Unterschiede wird noch gestritten, vermutet werden sie in unterschiedlichem Sport- und Ernährungsverhalten in den einzelnen Ländern.

Das ständige Überangebot von fettigen und süßen, meist industriell erzeugten Lebensmitteln schafft ein regelrecht toxisches Umfeld, mit dem unser Stoffwechsel auf Dauer nicht klarkommt. Die Nahrungsmittelindustrie hat mit dem europaweiten Abschmettern einer einfachen Ampelkennzeichnung auf ihren Produkten die Entwicklung grundsätzlich zu ihren Gunsten geklärt. Die Forderung nach der Ampel taucht heute schon nicht mehr auf. Auf der anderen Seite macht die Pharma-Industrie ebenfalls Druck und versucht unter dem Motto der Therapiefreiheit - auch über Patientengruppen und Fachärzte - den Diabetika-Markt weiter auszubauen.

Andererseits bleiben gute Ideen zur Verbesserung der Behandlung ungenutzt: So hatten medizinischen Experten, die mit der Diagnose und Behandlung von Diabetes zu tun haben, gemeinsam das Modell einer Versorgungslandschaft für die Krankheit entwickelt. Laut Ingrid Dänschel geschah das vor drei Jahren. Bis jetzt fand sich keine Krankenkasse zur Umsetzung. Dänschel kritisiert, dass die bestehenden, zentral vorgegebenen Chronikerprogramme der Komplexität von Diabetes und ihren Folgeerkrankungen nicht gerecht werden.

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