Der sanfte Tod des Rentiers

Schon in der Antike wurde der Zins als »Geld vom Gelde« kritisiert. Religiös begründete Zinsverbote gibt es bis heute. Dennoch ist er ökonomisch unverzichtbar. Von Klaus Müller

  • Klaus Müller
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Seit März dieses Jahres verlangt die Europäische Zentralbank (EZB) keine Zinsen mehr für ihre Kredite. Wandelt Mario Draghi, ihr Chef, auf den Spuren des Aristoteles? Für diesen ist der Zins Geld vom Gelde, Geld aus Geld zu machen aber der naturwidrigste aller Erwerbszweige. In der Antike erfüllte der Kredit vornehmlich konsumtive Funktionen. Wer in Not war, brauchte zinslose Hilfe. Er musste Wucherzinsen zahlen. Sie verschlimmerten seine Not. Der Zins hat zur Voraussetzung, dass sich das Geliehene vermehrt, für Münzen und zum Konsum bestimmte Güter ein Unding. Anders beim »Viehgeld«. Die Griechen nannten den Zins »tokos«, (Geld)Junge. Der älteste Zinsfuß in Ägypten und Babylon betrug 33,3 Prozent. Er orientierte sich am Kalb (dem Zuwachs des »Viehkapitals«), das auf ein Drittel des Wertes der Kuh geschätzt wurde.

Bibel und Koran verurteilen die Verzinsung der Kredite als Ausbeutung von Bedürftigen: »Wenn Du Silber leihst einem aus meinem Volke, sei gegen ihn nicht wie ein Schuldherr, legt ihm nicht Zins auf.« (2. Buch Mose 22, Vers 24/5) Im Mittelalter galt der Zins als Raub und Sünde. Karl der Große und Kaiser Lothar ließen verhaften, wer ihn nahm. Papst Alexander II. (1159-1181) erklärte jede Gesetzgebung, die den Zins erlaubt, für null und nichtig. Theoretiker der Kirche wie Albertus Magnus (1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1275) lehnten den Zins ab, wenn Geld für konsumtive Zwecke geliehen wird. Zinsen seien arbeitsloses, unverdientes und unberechtigtes Einkommen.

Christliche Philosophen des Mittelalters versuchten zugleich, die mehr als tausend Jahre anerkannte aristotelische Auffassung und die Lehren der heiligen Schrift in Übereinklang zu bringen mit den neuen Verhältnissen. Das Zinsnehmen ist unbegründet unter naturalwirtschaftlichen Bedingungen, es ist unentbehrlich für die sich entwickelnde Geld- und Kreditwirtschaft. Zins - das war der Anspruch, mit dem das Geldkapital die Bühne betrat.

Diesem Anspruch hielt das Zinsverbot der Kirche und weltlichen Herren nicht stand. Trotz aller himmlischen und irdischen Strafen fanden Geschäftsleute Wege, es zu umgehen. So wie das Zinsverbot im Islam durch Rechtskniffe und Gewinnbeteiligungen noch heute umgangen wird. Seit etwa 1150 spielte vor allem der »Rentenkauf« eine Rolle. Dabei verpflichtete sich der Eigentümer eines Grundstückes (»Rentenverkäufer«) gegen Empfang einer Geldsumme zur Zahlung einer regelmäßigen Rente (Gült) an den Geldgeber. Der Geldgeber kaufte die Rente und wurde Rentherr oder Gültherr genannt. Die Rente war anfangs für beide unablöslich, wurde Ewiggeld (»ewiger Zins«) genannt. Seit dem 14. Jahrhundert konnte sie gegen Rückerstattung des Kaufpreises abgelöst werden. Als Ersatz für den verbotenen Zins fand sie weite Verbreitung.

Kirchenfürsten gaben, wenn auch widerstrebend, ihre kritische Haltung zum Zins in dem Maße auf, wie sich Warenproduktion und Geldwirtschaft entfalteten und frühkapitalistische Wirtschaftsformen keimten. Obgleich sie stur an ihren Dogmen festhält, verzeiht »die englische Hochkirche«, so Marx, »eher den Angriff auf 38 von 39 ihrer Glaubensartikel als auf 1/39 ihres Geldeinkommens«. Die Kirche setzte sich der Gefahr aus, unglaubwürdig zu werden, wenn sie den Zins verurteilte, von dem sie lebte. So erlaubte der Erzbischof Antonin von Florenz (1389-1459) den Zins unter bestimmten Bedingungen. Er billigte Gewinne privat finanzierter Leihhäuser durch den Nutzen, den solche Einrichtungen stifteten. Martin Luther (1483-1556) wetterte gegen den Wucher, nicht gegen das Zinsnehmen an sich. Johann Calvin (1509-1564) sagte, der Zins stehe nicht im Widerspruch zur christlichen Lehre, wenn seine obere Grenze bestimmt und Wucher ausgeschlossen werde.

Zinsniveau und Zinssätze variieren in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage auf den Geld- und Kapitalmärkten. Diese werden bei aller relativen Selbstständigkeit bestimmt durch Veränderungen auf den Gütermärkten. Die Nachfrage steigt im Aufschwung auf allen Märkten, mit ihr Preise und Zinsen. In der Krise ist es umgekehrt: Nachfrage, Preise, Zinsen sinken. Schon einmal, in der großen Depression der 1930er Jahre, standen in den USA und Großbritannien die kurzfristigen Zinsen nahe Null. Auch die langfristigen Sätze lagen auf historischen Tiefstständen. In den USA endete die Ära sehr niedriger Zinsen in den 1950er Jahren; seit der Jahrtausendwende ist sie zurück. Japan hat seit Mitte der 1990er Jahre Niedrigstzinsen. Wenn wegen Angebotsüberschüssen auf den Geld- und Kapitalmärkten die Nachfrage nach Zentralbankkrediten sinkt und die Geschäftsbanken Überschüsse zur Zentralbank transferieren, wird diese früher oder später mit der Rücknahme ihrer Zinsen reagieren.

Das ist der Grund dafür, dass die EZB im März den Leitzins auf null Prozent und die Einlagenzinsen auf minus 0,4 Prozent herabsetzte. Erhebt die Zentralbank Negativzinsen auf Einlagen, weil sie will, dass die Geschäftsbanken ihr Geld behalten, ist aber noch kein einziger Euro als Kredit in den produktiven Umlauf gelangt. Die expansive Geldpolitik der EZB bewirkt nur, dass Buchgeldbestände bei den Geschäftsbanken wachsen. Sie kann keine Nachfrage schaffen. Billiges Geld kommt bei den produzierenden Unternehmen nicht an, wenn diese nicht bereit sind, es anzunehmen. Der Zins ist Teil des Profits; er muss erwirtschaftet werden. Welcher Unternehmer zahlt sechs Prozent Zinsen, wenn ihm die kreditfinanzierte Maschine vier Prozent Profit bringt? Banken können Kredite nur vergeben, wenn die Unternehmen und privaten Haushalte sie wollen. Und wenn diese die Geschäftsbanken mit ihren Ertragsprognosen und Sicherheiten überzeugen. Wo niemand oder wenige Kredite brauchen, sind die Zinsen mickrig.

Die Zentralbanker glauben, das Pferd von hinten aufzäumen zu können: niedrige Zinsen, billiges Geld erhöhe die Kreditnachfrage und könnte die Wirtschaft in Schwung bringen. Unlogisch ist das nicht, funktioniert aber nicht immer. Niemand wird investieren, nur weil die Zinsen niedrig sind, wenn er die neuen, zusätzlichen Produkte nicht oder nur zu einem kleinen Teil verkaufen kann. Was eine erleichterte Versorgung mit Zentralbankgeld bringt, hängt ab von der Lage auf den Gütermärkten. Ein Unternehmen will Kredite und ist kreditwürdig, wenn seine Produkte nachgefragt werden und es mit Gewinn produziert. Ist der Bedarf gesättigt und die Leute haben kein Geld, um zu kaufen, brauchen die Unternehmen keine Kredite. Die Banken bleiben auf ihren Überschüssen sitzen. Das ist der Grund, weshalb das Geschäft mit Bankkrediten seit Jahren stagniert. An seine Stelle tritt die Spekulation. Überreichliche Liquidität flutet die Finanzmärkte. Kurse steigen und es bilden sich die berüchtigten Blasen.

Wo Geldpolitik versagt, müsste der Staat einspringen. Er sollte in die technische und soziale Infrastruktur investieren. Deshalb fordern die Ökonomen der Arbeitsgruppe »Alternative Wirtschaftspolitik« zu Recht mehr staatliche Ausgaben für Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung, Kultur. Sie wollen mehr staatliche Investitionen, »nicht um ein Wachstum des Wachstums wegen«, sondern um dringende gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu erledigen - »vom ökologischen Umbau über bessere Bezahlungen von Menschen in sozialen Berufen bis hin zu mehr Personal in Schule, Ausbildung und Lehre«.

Der Anlagenotstand ist kein kurzzeitiges Phänomen. Keynes und Jean Fourastié (1907-1990) ahnten, dass es langfristig an profitablen Möglichkeiten mangeln würde, Geld anzulegen. Die Sättigung der kaufkraftstarken Haushalte, die durch Produktinnovationen und Werbung gebremst, aber nicht aufgehalten werden kann, Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, der Rückgang der Bevölkerungszahl begründen eine anhaltende Konsum- und Investitionsschwäche. Das Wirtschaftswachstum in entwickelten Volkswirtschaften geht in Stagnation über. Sollte sich diese Voraussage bewahrheiten, wofür die seit Jahren sinkenden Wachstumsraten in den entwickelten Ländern sprechen, werden die Zinsen nahe Null bleiben. Es kommt, wie Keynes vermutete, der »sanfte Tod des Rentiers«, eine Zeit, in der niemand mehr von Zinsen leben kann. Egal, was Draghi denkt oder will und seine Kritiker ihm vorwerfen.

Unser Autor war bis 1991 Professor für Politische Ökonomie an der TU Karl-Marx-Stadt; jüngste Bücher: »Mikroökonomie« (6. Aufl., GUC, 2015), »Geld von den Anfängen bis heute« (Ahriman, 2015, »Profit« (PapyRossa, 2016).

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