Gallert im zweiten Anlauf gewählt
CDU winkt AfD-Kandidaten im ersten Wahlgang durch und lässt Gallert bei Abstimmung über den Landtagsvizepräsidenten in Sachsen-Anhalt durchfallen / Grüne: Großer Schaden für Demokratie und angestrebte Kenia-Koalition
Die erste Sitzung des neuen Landtags in Sachsen-Anhalt ist unerwartet zum Stolperstein für die bundesweit erste Koalition von CDU, SPD und Grünen geworden. Nachdem Wulf Gallert, der langjährige Fraktionschef der LINKEN, im ersten Wahlgang als Vizepräsident des Landtags nicht die nötige Mehrheit erhalten hatte, sprach Claudia Dalbert, Fraktionschefin der Grünen, von einer »Belastung für die Kooperation, die gerade im Entstehen begriffen ist«. Auch Cornelia Lüddemann, Landeschefin der Grünen, schrieb auf Twitter von einer »schweren Hypothek für Kenia«. Erst im zweiten Anlauf kam Gallert mit 45 Stimmen ins Amt.
Der 52-jährige LINKE war das dritte Mitglied des neuen Landtagspräsidiums, das sich zur Wahl stellte. Zunächst war der neue Landtagspräsident Hardy Peter Güssau gewählt worden – wenn auch mit einem eher mauen Ergebnis: Für ihn votierten 47 der 87 Abgeordneten. Mit so wenig Rückhalt gelangte noch nie ein Landtagspräsident in das Amt. 35 Abgeordnete hatten gegen ihn gestimmt. Eine Ja-Stimme weniger, aber auch eine Nein-Stimme weniger erhielt danach Daniel Rausch, den die »Alternative für Deutschland« als Landtagsvize vorgeschlagen hatte. Die AfD ist seit der Wahl am 13. März die zweitstärkste Kraft im Parlament; sie hatten 24,3 Prozent der Stimmen erhalten. Dann kam es zum Eklat: Gallert erhielt zunächst nur 39 Stimmen; 44 Abgeordnete votierten gegen ihn. Die Sitzung wurde unterbrochen; die LINKE zog sich zur Krisensitzung zurück.
Bereits die Abstimmungsergebnisse für Güssau und Rausch hatten aufhorchen lassen. Die hohe Zahl an Gegenstimmen für den neuen Präsidenten legte den Schluss nahe, dass die AfD-Fraktion weitgehend gegen ihn votierte. Dieses Stimmverhalten ließe sich so deuten, als solle bei der Kür des Vizepräsidenten ein Scheitern provoziert werden. Rauschs Nichtwahl hätte den Rechtspopulisten als Steilvorlage dafür dienen können, das Parlament als demokratische Institution zu diskreditieren und die eigene, selbst gewählten Rolle als Außenseiter des Politikbetriebs zu pflegen. Der Vorstoß lief indes ins Leere, der Eklat schien abgewendet. Allerdings sorgte die hohe Anzahl an Ja-Stimmen für Erstaunen; Rausch wäre auch mit zahlreichen Enthaltungen ins Amt gekommen.
Nach der Pause kam es dann zu einem bemerkenswerten Appell der Chefs aller Fraktionen jenseits der AfD. Obwohl in der konstituierenden Sitzung des Landtags eigentlich keine Reden vorgesehen sind, traten sie nacheinander ans Pult und plädierten für eine Wahl Gallerts. Man dürfe »das Amt nicht vor die Person stellen«, sagte Siegfried Borgwart (CDU) und fügte kleinlaut an, man wolle einen »geordneten Start, der etwas holprig begonnen hat«. Andreas Steppuhn (SPD) sagte, man brauche »stabile Verhältnisse« im Land. Dalbert merkte an, der Vorgang sei einmalig im Land: »Die Demokratie in Sachsen-Anhalt steht vor einer Belastungsprobe.« Nur André Poggenburg, Chef der AfD-Fraktion, merkte indes an, es sei »nicht die AfD, die hier parlamentarische Gepflogenheiten bricht«. Er erklärte die Ablehnung Gallerts mit der vorangegangenen Ankündigung der LINKEN, Rausch keine Stimme geben zu wollen.
Auch bundesweit sorgte die Nichtwahl Gallerts beim gleichzeitigen Durchwinken von Rausch im ersten Durchlauf für massive Kritik. Die »CDU verabschiedet sich in Sachsen-Anhalt aus dem demokratischen Lager«, twitterte die brandenburgische LINKEN-Politikerin Andrea Johlige. Die hessische LINKEN-Fraktionschefin Janine Wissler spricht von einem »schlimmen Signal«. Eine »Schande für die Demokratie«, kommentierte der Bundestagsabgeordnete Niema Movassat (LINKE). Die Grünen-Politikerin Steffi Lemke erklärte: »Die Alternative zu CDU-SPD-Grüne Koalition ist spätestens seit heute eine CDU-AFD-Koalition/Tolerierung, mitnichten Neuwahlen.«
Beobachter sehen das Wahlergebnis auch als Schwächung von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Er steuert einen Kurs strikter Abgrenzung von der AfD und hatte erklärt, es dürfe rechts von der CDU keine demokratische Partei geben. An der Basis gibt es freilich teils unverhohlene Sympathien für die AfD. Zuletzt war in dieser Sache ein Offener Brief der CDU Landsberg publik geworden. Nach der Pleite bei der Konstituierung wird nun gespannt erwartet, wie die Abstimmung in der CDU über einen möglichen Koalitionsvertrag ausgeht – und die für den 25. April geplante Kür Haseloffs zum Regierungschef. Mehr als zwei Abgeordnete dürfen ihm in der geheimen Wahl nicht von der Fahne gehen, sonst ist Kenia bereits am Start Geschichte.
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