Razzia wie bei Al Capone
Polizei und Zoll durchsuchen mit einem Großaufgebot das Bordell »Artemis«
900 Beamte waren im Einsatz, die Autobahn A 100 am Funkturm gesperrt, fast 100 Sexarbeiterinnen wurden verhört: Den Großeinsatz von Polizei und Zollfahndung und Staatsanwaltschaft im Bordell »Artemis« in Halensee verglich Staatsanwalt Andreas Behm am Donnerstag mit einer Strafverfolgung »wie gegen Al Capone«.
Anlass der Großrazzia am frühen Mittwochabend war der Verdacht auf Scheinselbstständigkeit der im Bordell arbeitenden Prostituierten. Der Zoll schätzt die Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge auf 17,5 Millionen Euro. Das entspricht fast einem Drittel der Summe, die dem Zoll im vergangenen Jahr in ganz Berlin vorenthalten wurde.
Gegen das Bordell wird ermittelt, seit eine Mitarbeiterin im Sommer vergangenen Jahres Kontakt zur Polizei gesucht hatte. Die Kronzeugin berichtete laut Staatsanwaltschaft von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Obwohl die Frauen im »Artemis« offiziell als Selbstständige arbeiten, seien sie einem engen Regelwerk unterworfen: In dem Bordell herrsche Zwang zu Anwesenheit und zu bestimmten sexuellen Tätigkeiten sowie zu einer einheitlichen Kleiderordnung. Den Frauen sei es außerdem verboten, zu einem anderen Arzt zu gehen als zum hauseigenen Mediziner. »Wir reden hier über Beitragsvorenthaltung und Scheinselbstständigkeit. Das sind keine Bagatellen, sondern Straftaten, die ein System illegaler Prostitution schaffen. Diese Delikte bedeuten für die Beschäftigten Ausbeutung und Abhängigkeit«, sagte der Leitende Staatsanwalt Andreas Behm.
Aufgrund der Zeuginnenaussagen könne zudem die Verbindung des Bordells mit der Rockerbande »Hells Angels« nachgewiesen werden. »Viele Frauen werden von den Hells Angels an das Artemis vermittelt. Und die Rocker genießen dort freien Eintritt«, sagte der für organisierte Kriminalität zuständige Staatsanwalt Sjors Kanstra. Auch die Kronzeugin, nach eigenen Angaben Lebensgefährtin eines der Rocker, soll von einem Hells Angel vermittelt worden sein. Jetzt ist sie im Zeugenschutz.
Nach Hausdurchsuchungen, die gleichzeitig in sechs Steuerbüros und Wohnungen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen durchgeführt wurden, sind außerdem zwei Betreiber und vier »Hausdamen« festgenommen worden. Gegen die Betreiber wurde Haftbefehl wegen Verdachts auf Steuerhinterziehung und Zurückhaltung von Sozialversicherungsbeiträgen erlassen. Die »Hausdamen« sollen laut Staatsanwaltschaft für die Kontrolle und Umsetzung des scharfen Reglements zuständig gewesen sein.
»Im Bereich der Prostitution sind wir den Weg über die Strafverfolgung der Veruntreuung von Arbeitsgeld noch nicht gegangen«, sagte Behm. Auf diese Idee sei die Staatsanwaltschaft erst auf einer bundesweiten Tagung im vergangenen Jahr gekommen. Auch die enge Zusammenarbeit zwischen der Abteilung für organisierte Kriminalität und den Zuständigen für Kapitaldelikte sei neu. Auf die Frage, ob die Verfolgung von Scheinselbstständigkeit und Steuerhinterziehung in Bordellen nun vertieft und auf weitere Etablissements in Berlin erweitert werde, gab die Staatsanwaltschaft keine Antwort.
»Es ist gut, wenn Polizei, Zoll und Steuerfahndung hart und konsequent gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen in Bordellen vorgehen«, kommentierte am Donnerstag Arbeitssenatorin Dilek Kolat die Razzia. Gebraucht werde beides: »Eine harte Hand gegen Menschenhändler und Zuhälter, aber auch Hilfe für die betroffenen Frauen.«
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