»Ihr seid nicht allein«
Die Rede des Papstes zu den Geflüchteten im Lager Moria auf Lesbos und die Deklaration der Kirchenvertreter zur Solidarität der Welt. Eine Dokumentation
Bei seinem Besuch auf der Ägäis-Insel Lesbos hat sich Papst Franziskus in einer Rede an die Geflüchteten im Lager Moria gewandt. Gebt die Hoffnung nicht auf, sagte er. Die Rede im Wortlaut:
»Liebe Freunde, ich wollte heute bei euch sein. Ich möchte euch sagen, dass ihr nicht alleine seid. In diesen Wochen und Monaten habt ihr auf der Suche nach einem besseren Leben viel Leid erlitten. Viele von euch waren gezwungen, vor Konflikten und Verfolgung zu fliehen - vor allem um eurer Kinder Willen.
Ihr habt den Schmerz kennengelernt, alles hinter euch lassen zu müssen und - was vielleicht am schwierigsten ist - nicht zu wissen, was die Zukunft bringt. Viele andere harren so wie ihr in Camps aus; sie warten und hoffen, auf diesem Kontinent ein neues Leben aufzubauen.
Ich bin mit meinen Brüdern, dem Patriarchen Bartholomaios und dem Erzbischof Hieronymus hierhergekommen - einfach um mit euch zu sein und eure Geschichten zu hören. Wir sind hergekommen, um die Aufmerksamkeit der Welt auf diese schwere humanitäre Krise zu richten und um ihre Lösung zu bitten. Als Menschen des Glaubens wollen wir unsere Stimmen vereinen und für euch sprechen. Wir hoffen, dass die Welt die Bilder dieser tragischen und verzweifelten Not sieht und auf eine Weise reagiert, die unserer gemeinsamen Menschlichkeit angemessen ist.
Gott hat die Menschheit als eine Familie geschaffen; wenn unsere Brüder und Schwestern leiden, sind wir alle betroffen. Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, wie leicht es für manch einen ist, anderer Leute Leid zu ignorieren, ja, ihre Verletzlichkeit sogar auszunutzen. Aber wir wissen auch, dass solche Krisen das Beste aus uns herausholen können. Das habt ihr untereinander erfahren und auch mit dem griechischen Volk, das großzügig und trotz eigener Schwierigkeiten auf eure Bedürfnisse reagiert hat. Ihr hab es auch bei jenen vielen Menschen gesehen - vor allem den jungen Leuten aus Europa und der ganzen Welt - die hergekommen sind, um euch zu helfen. Ja - so viel mehr muss getan werden! Aber lasst uns Gott danken, dass er uns in unserem Leiden niemals alleine lässt. Es gibt immer jemanden, der seine Hand reicht und hilft.
Dies ist die Nachricht, die ich euch heute übermitteln möchte: Verliert die Hoffnung nicht! Das größte Geschenk, dass wir einander machen können, ist Liebe: ein barmherziger Blick, die Bereitschaft, zuzuhören und zu verstehen, ein Wort der Ermutigung, ein Gebet. Mögt ihr dieses Geschenk miteinander teilen. Wir Christen erzählen gerne die Geschichte des Barmherzigen Samariters, einem Fremden, der einen anderen Menschen in Not sah und sofort anhielt, um ihm zu helfen. Für uns ist dies die Geschichte von Gottes Gnade, die für alle gilt, denn Gott ist der Allbarmherzige. Das bedeutet auch, allen Bedürftigen dieselbe Barmherzigkeit zu zeigen. Mögen alle unsere Brüder und Schwestern auf diesem Kontinent euch wie der Barmherzige Samariter zur Hilfe kommen - in einem Geist von Brüderlichkeit, Solidarität und Respekt für die Menschenwürde.
Liebe Freunde, möge Gott euch segnen, besonders eure Kinder, die Älteren und all jene, die an Leib und Seele leiden! Ich umarme euch mit Zuneigung. Für euch alle erbitte ich Seine Geschenke von Kraft und Frieden.«
Deklaration: »Welt darf kolossale humanitäre Krise nicht ignorieren«
Die Kirchenoberhäupter Papst Franziskus, Patriarch Bartholomaios I. und Erzbischof Hieronymus II. appellieren an die Solidarität der Welt mit den Flüchtlingen. Auch die Politik sei gefragt - ein internationaler Konsens, um die fundamentalen Menschenrechte zu verteidigen. Beim Besuch des Papstes auf der griechischen Insel Lesbos unterzeichneten sie im Flüchtlingslager Moria am Samstag eine entsprechende Deklaration:
»Wir, Papst Franziskus, Patriarch Bartholomaios und Erzbischof Hieroymus von Athen und ganz Griechenland, haben uns hier auf Lesbos getroffen, um unsere tiefe Besorgnis über die tragische Situation der zahlreichen Flüchtlinge, Migranten und Asylsuchenden zu demonstrieren, die vor Gefahren für Leib und Leben nach Europa geflohen sind. Die Welt kann die kolossale humanitäre Krise nicht ignorieren, die durch die Verbreitung von Gewalt und bewaffneten Konflikten entsteht. (...)
Die Tragödie erzwungener Migration und Vertreibung begrifft Millionen Menschen und ist eine humanitäre Krise, die nach Solidarität, Barmherzigkeit, Großzügigkeit und sofortiger Leistung von humanitärer Hilfe ruft. Aus Lesbos appellieren wir an die internationale Gemeinschaft, mutig auf diese massive humanitäre Krise und ihre Gründe zu reagieren - durch diplomatische, politische und wohltätige Initiativen. (...)
Als Führer unserer jeweiligen Kirchen sind wir uns einig im Verlangen nach Frieden und der Bereitschaft, die Beendigung der Konflikte durch Dialog und Versöhnung zu fördern. (...) Wir appellieren an alle politischen Führer, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass jeder Einzelne und alle Gruppen inklusive der Christen in ihrer Heimat bleiben und in Frieden und Sicherheit leben können.
Ein breiter internationaler Konsens und Hilfsprogramme sind dringend notwendig, um Recht und Gesetz aufrecht zu erhalten, Menschenrechte in dieser unerträglichen Situation zu verteidigen, Minderheiten zu schützen, Menschenschmuggler zu bekämpfen, die unsicheren Flüchtlingsrouten über die östliche Ägäis zu eliminieren und sichere Umsiedlungsprogramme zu entwickeln. Auf diese Weise können wir jene Länder unterstützen, die direkt involviert sind und versuchen, die Bedürfnisse unserer leidenden Brüder und Schwestern zu decken. Insbesondere erklären wir uns solidarisch mit den Griechen, die den Menschen in dieser Krise trotz ihrer eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten großzügig geholfen haben. ...
Gemeinsam rufen wir dazu auf, den Krieg und die Gewalt im Mittleren Osten zu beenden. (...) So lange die Notwendigkeit besteht, dringen wir darauf, dass alle Länder den Menschen in Not vorübergehend Asyl gewähren. (...) Europa steht heute eine der schlimmsten humanitären Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegenüber.« dpa/nd
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