Dem Celler Dickstiel ist das Wetter egal
In der Niedersächsischen Elbtalaue haben sich ungewöhnlich viele alte Obstsorten erhalten - oft sogar als Allee
Zuerst blühen die Pflaumen, dann die Birnen, zuletzt die Äpfel. Sie bilden den farbigen Schlussakkord. Jetzt rauscht wieder der Wind durch ein weiß-rosa Blütenmeer an den Chausseen rechts der Elbe. Kilometerlange Obstbaumalleen prägen die Landschaft in der Gemeinde Amt Neuhaus, die zum Biosphärenreservat »Niedersächsische Elbtalaue« gehört.
»Die Bäume blühen nicht, weil wir das schön finden«, erklärt Sabine Wittkopf, »sondern um Insekten anzulocken, bestäubt zu werden und sich zu vermehren. Sie müssen sich die Insekten teilen und blühen deshalb nacheinander. Einige alte Apfelsorten aber, wie der Celler Dickstiel, der blüht jedes Jahr zum selben Zeitpunkt - ob es ein mildes Frühjahr ist oder nicht. Das ist ihm völlig egal.« Die vom Biosphärenreservat ausgebildete und zertifizierte Natur- und Landschaftsführerin weiß Erstaunliches über ein nahezu vergessenes Naturparadies zu erzählen. Sie spricht vom »Gelben Richard«, aber auch von »Fürst Blücher« oder »Karl Peters« wie von guten alten Freunden. Und das sind die Obstbäume für die gebürtige Mainzerin im Laufe der Jahre auch geworden.
Alte Hünen sind darunter, aber auch schmale Teenager. Die knorrigen Senioren an der Allee zwischen Konau und Popelau mit ihren etwa einhundert Jahren zählen zu den ältesten in der Region. »Wir müssen uns vorstellen, dass ursprünglich alle Straßen hier einmal Obstbaumalleen waren,« erklärt die studierte Historikerin Wittkopf. »Die Früchte waren an der Tafel des Adels begehrt, Obst war der Süßstoff schlechthin.« Durch den Glücksfall, dass sich eine regionale Baumschule über viele Jahrzehnte der Züchtung ausgefallener Obstsorten verschrieben hatte, entstand eine besondere Artenvielfalt. Doch die meisten Sorten werden lange schon nicht mehr angebaut. Plantagen und Hausgärten verlangten nach kleinwüchsigen Exemplaren. Und viele Bäume starben durch den Straßenbau. Fällt jedoch der letzte Baum einer Art, ist die Sorte für immer verloren.
Die größte Artenvielfalt mit gleich 30 Apfel- und Birnsorten findet man an der Alten Kreisstraße bei Bitter. Als die Straße verlegt wurde, blieb die wohl hundert Jahre alte krumme Chaussee wie sie war. Jetzt blüht es rosa, im Herbst leuchten Früchte wie Schmuckstücke, im Winter stehen bizarre Skulpturen im Nebel.
Die Bäume verraten, welches Obst unsere Vorfahren aßen. Neben guten Bekannten begegnet einem auch hier wieder »Fürst Blücher«, eine alte Mecklenburger Sorte, die bis in die 1940er Jahre hinein gezüchtet worden war. »Zu unserem ersten Apfelgenusstag 2014 kamen Leute, die sich erinnerten, dass er einst im Garten ihrer Großeltern stand. Aber diese Bäume waren eingegangen,« berichtet Sabine Wittkopf. Vor drei Jahren initiierte sie mit Hermann Stolberg vom Streuobstwiesen-Verein Lüneburg ein Sortenerhaltprojekt, in das »Fürst Blücher« integriert wurde. Inzwischen kehrte er 25-fach in seine Heimat zurück.
Eine wachsende Gemeinschaft hilft mit, dieses einzigartige Erbe zu bewahren. Dazu gehört auch die Umweltwissenschaftlerin Cornelia Bretz aus Lüneburg. Sie war maßgeblich dabei, als vor rund drei Jahren der Verein »Konau 11 - Natur e.V.« gegründet wurde und ein Zentrum für Begegnung, Fortbildung, Kommunikation und Gastlichkeit entstand.
Der Verein betreut im Amt Neuhaus 22 Kilometer Straße mit 2500 Bäumen und bietet Anwohnern eine Ausbildung zum Obstbaumwart an. Diese pflegen einzelne Bäume dann selbst. Als Gegenleistung winkt ihnen im Herbst die Ernte von Früchten mit einem Geschmack jenseits des Supermarkt-Einerleis. Die alten Sorten sind auch bei Allergikern beliebt, die Äpfel aus dem Supermarkt nicht vertragen.
Termine für Naturführungen und historische Rundgänge in der niedersächsischen Elbtalaue in Internet unter: www.elbtalaue-erleben.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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