Auf der Rumpelpiste nach Kenia
Haseloff wird erst im zweiten Wahlgang Regierungschef in Sachsen-Anhalt
So sieht tollkühner Optimismus aus. Um 13.06 Uhr werden im Landtag von Sachsen-Anhalt drei Blumensträuße ausgewickelt. Die Fraktionschefs von CDU, SPD und Grünen bereiten sich auf die Gratulationscour für Ministerpräsident Reiner Haseloff vor, obwohl neben der Regierungsbank noch ein Stapel hellgrüner Stimmzettel gezählt wird. 90 Minuten zuvor waren dort schon 87 Zettel in Orange ausgewertet worden, mit denen die Abgeordneten des Landtags über den Regierungschef abstimmen sollten, und das Ergebnis hatte nicht nur Haseloff bleich werden lassen. 41 Stimmen für den CDU-Mann sind fünf weniger, als das schwarz-rot-grüne Bündnis Abgeordnete hat, und drei weniger, als der Physiker für die erfolgreiche Wiederwahl benötigte.
In der Pause danach meinte man in Sachsen-Anhalts Landtag Wellen eines erneuten politischen Erdbebens zu spüren. Erst dann gab es Entwarnung und Blumen: Im zweiten Durchgang votierten 47 Abgeordnete für Haseloff, der damit mindestens eine Leihstimme von AfD oder LINKE erhielt. Es gab noch 34 Gegenstimmen, obwohl die Opposition 41 Abgeordnete zählt.
Eine Überraschung war dabei weniger das Ergebnis der ersten als das der zweiten Abstimmung. Die so genannte Kenia-Koalition hatte sich zwar am Dienstag auf ein Regierungsprogramm verständigt, das am Sonntag mit feierlichen Mienen unterschrieben wurde. Doch vor allem in der CDU brodelte es. Die Partei fremdelt mit den Grünen; dass diese das Ministerium für Umwelt und Landwirtschaft übernehmen dürfen, sorgte für erheblichen Unmut. Die freizügige Interpretation des Vertrags durch den CDU-Landeschef auf einem Parteitag am Freitag ließ Spitzengrüne von »Lüge« sprechen, was die CDU als »schwere Belastung für den Start der Regierungsarbeit« geißelte. Ein »Rumpelstart« für die Kenia-Koalition, sagte die grüne Bundestagsabgeordnete Steffi Lemke aus Dessau.
Welch fatale Folgen der Groll in der CDU bei geheimen Abstimmungen im Landtag haben kann, hatte sich Mitte April bei der Wahl der Vizepräsidenten im Landtag gezeigt. Der AfD-Kandidat Daniel Rausch hatte dabei 21 Stimmen jenseits der eigenen Fraktion erhalten - mutmaßlich aus der CDU. Dagegen fiel Wulf Gallert, Bewerber der LINKEN, zunächst durch. Der Eklat verstärkte Spekulationen, Teile der CDU favorisierten ein Bündnis mit den Rechtspopulisten, die bei der Wahl im März zur zweitstärksten Kraft geworden waren und der CDU reihenweise Direktmandate abgeknöpft hatten. In Magdeburg machten Spekulationen die Runde, wonach Haseloff abserviert und eine CDU-Minderheitsregierung ins Amt gehievt werden könnte. Umgekehrt mutmaßten Beobachter zuletzt, die AfD könne sich vor dem zweiten Wahlgang offen zum »Retter« und Steigbügelhalter für Haseloff aufschwingen.
Das allerdings passierte nicht: Fraktionschef André Poggenburg äußerte sich nicht zum Verhalten seiner Fraktion. Dagegen appellierte Grünen-Fraktionschefin Claudia Dalbert, das Land brauche eine »Regierung der demokratischen Verlässlichkeit«. Auch ihre Kollegen von SPD und CDU, die sich »überrascht« von der Wahlpleite zeigten, drängten auf einen schnellen zweiten Wahlgang. Der verhalf Haseloff dann ins Amt. Bei der LINKEN erklärte man anschließend, für Leihstimmen nicht verantwortlich gewesen zu sein. Fraktionschef Swen Knöchel hatte zuvor die rhetorische Frage gestellt, ob es »eine oder zwei CDU-Fraktionen« im Landtag gebe.
Nach seiner erfolgreichen Wahl zeigte sich Haseloff zuversichtlich, dass »diese Koalition ein Erfolg werden wird«. Er fügte hinzu: »Sie werden sich teilweise auch wundern.« An die Koalition und die Opposition appellierte er, die Werte von Grundgesetz und Landesverfassung hoch zu halten. Man dürfe eine »weitere Polarisierung der Gesellschaft nicht zulassen.« In Interviews fügte er später an: »Wir können und wollen das, was wir rechts von uns sehen, nicht auf Dauer tolerieren.«
Nach seiner Vereidigung ernannte Haseloff sein Kabinett. Die CDU stellt sechs Minister und den Chef der Staatskanzlei. Die SPD führt die Ressorts für Wirtschaft und Wissenschaft sowie für Soziales und Arbeit. Die Grünen stellen die Ministerin für Landwirtschaft, Umwelt, Energie und Verbraucherschutz.
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