Auffällig viele Gedächtnislücken
Kein Ende der Ermittlungen zum NSU-Netzwerk in Hessen abzusehen
Bei den Nachforschungen zum Versagen der hessischen Sicherheitsbehörden in Sachen NSU geht es vor allem um den Mord an dem Kasseler Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat Demnächst ist Halbzeit der Legislaturperiode des Landtags. Nicht wenige gehen allerdings davon aus, dass sich die Arbeit bis zum Beginn des neuen Wahlkampfes im Herbst 2018 hinziehen könnte. Bislang liegen den Ausschussmitgliedern und ihren Mitarbeitern rund 900 Aktenordner vor. Weitere von den Parlamentariern angeforderte Akten sollen nach der Sommerpause zur Auswertung angeliefert werden.
In den vergangenen Wochen hatte der Ausschuss gut ein halbes Dutzend Personen vernommen, die in den vergangenen Jahren in der nordhessischen Neonaziszene aktiv waren. Dabei wurde deutlich, dass die zur Szene gehörenden Gruppen in Nordhessen und darüber hinaus besser vernetzt waren, als es manche Behörden und auch hessische Regierungsmitglieder bisher zugaben.
In den kommenden Monaten sollen Beamte aus Sicherheitsbehörden vernommen werden. Einige von ihnen, die bereits zum zweiten Mail im Gremium erwartet werden, könnten dabei mit neuen Erkenntnissen konfrontiert werden. Mit Spannung erwartet wird die nächste Ausschusssitzung am 20. Mai. Zu diesem Termin sind zwei hessische Polizisten geladen, die nach Presseberichten in früheren Jahren Verbindungen zu dem im Jahre 2000 in Deutschland verbotenen internationalen rechtsextremen Netzwerk »Blood & Honour« gepflegt haben sollen. Mitglieder des militanten Netzwerkes hatten das NSU-Trio unterstützt. Auch der ehemalige hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme, der sich zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat am Tatort aufgehalten haben soll, wird vermutlich noch ein weiteres Mal befragt werden.
Namen und Gesicht von Halit Yozgat, dessen Ermordung sich kürzlich zum zehnten Male jährte, waren dieser Tage zumindest im Rahmen einer zeitweiligen Ausstellung im Foyer des Landtags allgegenwärtig. Die von der Nürnberger Rechtsextremismusforscherin Birgit Mair im Auftrag des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (ISFBB) erstellte Wanderausstellung setzt sich mit den NSU-Verbrechen auseinander. Sie stellt die Biografien der Mordopfer vor und lässt Angehörige zu Wort kommen. Sie ist demnächst in Frankfurt am Main, Eckernförde, Remscheid, Frankfurt am Main, Prora und Chemnitz zu sehen.
Zu den regelmäßigen Zuhörern bei den Ausschusssitzungen gehört Heidemarie Scheuch-Paschkewitz aus dem südlich von Kassel gelegenen Schwalm-Eder-Kreis. Ihre damals 13-jährige Tochter Sophia war im Sommer 2008 bei einem bewaffneten Überfall auf ein Zeltlager der Linksjugend in Nordhessen von dem aus der Region stammenden Neonazi-Aktivisten Kevin Schnippkoweit mit einem Klappspaten lebensgefährlich verletzt worden. Der Angriff hat die Mutter damals zum Eintritt in die LINKE bewogen. Heute ist Scheuch-Paschkewitz Kreistagsabgeordnete und Landesvorsitzende ihrer Partei. Ein Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit ist der Antifaschismus.
Jüngst verfolgte sie in Wiesbaden Schnippkoweits Zeugenbefragung durch den Ausschuss. Er ist mittlerweile 26 Jahre alt und hat nach eigenen Angaben ein Ingenieursstudium aufgenommen. Nach der Tat verbüßte er eine Haftstrafe. Vor den Parlamentariern gab er sich als »Aussteiger«, der mit seiner braunen Vergangenheit und speziell den »Freien Kräften« im Schwalm-Eder-Kreis gebrochen habe. Er sei, so die Ansicht der Ausschussmehrheit, »geläutert« und »resozialisiert«.
Für Heidemarie Scheuch-Paschkewitz war sein Auftritt indes »alles andere als glaubwürdig«. »Es hat mich auf der Zuschauerbank fast zerrissen«, so Heidemarie Scheuch-Paschkewitz gegenüber »nd«. Schnippkoweit habe auffällig viele »Gedächtnislücken« und wiederholt beteuert, namentlich genannte Aktivisten der regionalen Neonaziszene nicht zu kennen - obwohl er nachweislich regelmäßig mit ihnen in Kontakt gestanden habe.
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