»Alles brannte, alle meine Sachen brannten«

Das ostukrainische Slowjansk war hart umkämpft, ist stark zerstört und kennt keine Sieger

  • Jens Malling, Slowjansk
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Krieg in der Ukraine hat große Zerstörungen in Slowjansk verursacht. Zwischen Ruinen und Einschusslöchern berichten Einwohner über gebrochene Versprechen, Zerstörung und Hoffnung.

Stille umschließt das ehemalige psychiatrische Krankenhaus. Nur wenn ein Windstoß kommt, rasselt ein Stück Metall gegen das Mauerwerk. Offenbar war die lose Blechplatte einmal Teil des Belüftungssystems. Nun hängt sie zwecklos zwischen Einschusslöchern und mehreren Kratern, die von Granaten hinterlassen wurden. Das einsame Klappern wirkt wie der verzweifelte Versuch dieser stummen und zerbrochenen Welt, über die Ereignisse zu berichten, die die psychiatrische Klinik hier in der ostukrainischen Stadt Slowjansk zu einer post-apokalyptischen Szene werden ließen.

Schlacht in der Klinik

Nikolaj Solotuschenko führt in der Mondlandschaft herum. Der Kies knirscht unter seinen Füßen. »Ich glaube nicht, dass sie hier Minen gelegt haben. Aber falls einige Granaten nicht explodiert sind, ist es besser, auf dem Pfad zu bleiben,« sagt er.

Ein gutes halbes Dutzend Gebäude gehörten zu dem Komplex der Klinik. An den Fußwegen zwischen ihnen wurden schöne Alleen angelegt. Aber Gewehrfeuer zersägte die Bäume. Sie stehen nun seltsam verdreht, sind verkohlt und die Spitzen sind abgebrochen. Haufen von Schutt und schwarz verbrannten Balken liegen überall verstreut. Die Fenster wurden mit großem Eifer eingeschlagen. An einer Stelle fehlt das Dach völlig.

Drinnen bezeugen zerschossene Flure, wie die Kämpfe sich von Raum zu Raum fortbewegten. Prorussische Separatisten und ukrainische Regierungstruppen sind hier während der Schlacht um Slowjansk im Mai und Juni 2014 in dem Krieg im Donbass aufeinander losgegangen.

»Stellen Sie sich vor, wie friedlich das alles vor dem Krieg war«, sagt der 66-jährige Solotuschenko und deutet mit einer ausholenden Armbewegung auf die vom Untergang gezeichnete Landschaft. »Die Ärzte gingen in weißen Kitteln umher, sie und ihre Mitarbeiter kümmerten sich um die Kranken«, sagt er.

Der ältere Mann setzt den bedrückenden Rundgang in der Kinder- und Jugendabteilung fort. Hier wurden Minderjährige mit schweren psychische Erkrankungen behandelt. »Sie waren zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Wer kümmert sich jetzt um sie?« Er zeigt auf die Überreste eines Kulturhauses, das zum Komplex gehörte. »Konzerte und Veranstaltungen fanden dort statt. Sehen Sie sich die Verwüstungen an. Wer braucht das? Wem nützt es?«, fragt Nikolaj Solotuschenko. Er lebt direkt neben dem Krankenhaus, auch sein eigenes Haus wurde durch die Kämpfe schwer zerstört.

Die Natur des Krieges

Die Lage auf einem Hügel direkt an der Hauptstraße zwischen den Städten Charkiw und Rostow wurde am Ende zum Unglück für das Krankenhaus, für die Patienten und für Nikolaj Solotuschenko. Der Ort gewann eine strategische Bedeutung. Von hier oben kann man die wichtige Verkehrsverbindung kontrollieren. Die Geisterstadt, die er jetzt hier am Rande von Slowjansk beherbergt, war zuvor eine der größten und besten Einrichtungen der Region zur Behandlung psychischer Erkrankungen - dieser Ort war der Linderung von Schmerzen und menschlichem Leid gewidmet.

Die Silhouetten der zertrümmerten und zerschossenen Gebäude machen etwas von der Natur des Krieges deutlich, doppelten Schaden zu verursachen. Das Krankenhaus wurde zerstört, als die Bewohner von Slowjansk die Institution für die Behandlung von Kriegstraumata brauchten. Die Medien berichteten, wie Patienten und Personal im Keller Schutz suchen mussten, als die Bomben fielen. Nur dank Zufall und Glück kam niemand ums Leben.

Nikolajs Nachbarin Alla Tschepiga erzählt, was sie über das Schicksal der psychisch kranken Bewohner der Klinik erfahren hat: »Sie wurden in ihre Heimatstädte in der Region evakuiert.« Die 63-Jährige steht zwischen ihrem eigenen und dem Haus Nikolajs und zeigt auf die Schäden der Bombenangriffe. Ein Stück entfernt läuft jemand einsam auf der Straße an den Häusern vorbei. »Abgesehen von dem jungen Mann da. Er konnte nirgendwo hin und ist in den Trümmern geblieben.«

Als die Schlacht am heftigsten tobte, floh Alla nach Charkiw, um bei ihrer Tochter zu leben. »Meine Hände begannen zu zittern, als ich zurückkam und die Verwüstung sah«, sagt sie. »Unser Dach war weg. Da drüben hat ein Granate die Ecke des Hauses völlig weggerissen.« Einige Nachbarn lebten während der Gefechte monatelang im Keller. Dort ernährten sie sich von Konserven und anderen Vorräten.

»Die meisten Menschen hier sind Rentner, wir haben also nicht so viel Geld für den Wiederaufbau. Die EU hat uns sehr geholfen, vor allem eine tschechische Hilfsorganisation. Örtliche Freiwillige haben die Wände wieder hochgezogen«, berichtet Alla. Sie zeigt auf große Flecken frischen und deshalb noch dunkelgrauen Mörtels, mit dem die Granateinschläge wieder verschlossen wurden. Auf einer Bank vor ihrem Haus ruht sich Nikolajs Frau Tamara Solotuschenko aus. In der Fassade hinter ihr sind immer noch zahlreiche Einschusslöcher zu sehen. »Wir hoffen nur, dass es bald Frieden gibt. Das ist das Wichtigste«, sagt die 66-Jährige. Ihr Mann ergänzt: »Manchmal frage ich mich: Warum gerade die Ukraine, warum gerade der Donbass, warum gerade Slowjansk und warum gerade unser Haus? 44 Jahre lang haben wir darin gelebt.«

Immer noch abdachlos

Unter den Bewohnern des Stadtviertels ist Empörung gegen die ukrainische Regierung weit verbreitet. Sie fühlen sich im Stich gelassen von den Politikern. Die gaben sich alle Mühe, die Separatisten aus Slowjansk zu vertreiben, rührten aber keinen Finger, als die Stadt wieder aufgebaut werden sollte. Bei weitem nicht alle Einwohner haben Hilfe bekommen. Ein großes Banner auf einem der bombardierten Häuser zeigt die Frage: »Lieber Präsident und Premierminister der Ukraine, schämen Sie sich nicht wegen der leeren Versprechungen vom Wiederaufbau der Wohnorte?«

In der Nachbarschaft steht Jelena Gretschuchowa inmitten eines Trümmerhaufens. Das war einmal ihr Zuhause, doch der Krieg veränderte ihr Leben. »Alles brannte, alle meine Sachen brannten«, erinnert sich die 45-Jährige. Fast zwei Jahre sind seit der Bombardierung des Gebäudes vergangen, in dem zwölf Familien wohnten. Doch sie ist noch immer obdachlos. Es gibt keine aktuellen Pläne, das Haus von Jelena Gretschuchowa oder die psychiatrische Klinik Slowjansks wieder aufzubauen. Das Krankenhaus ist so schwer verwüstet, dass es sich wahrscheinlich nicht mehr lohnt - eher müsste eine neue Einrichtung gebaut werden.

»Die Behörden versprachen, mich für den Verlust zu entschädigen. Aber unternommen haben sie nichts«, sagt Jelena. Sie lebt armselig in einer Art Wohnheim, wo ihr ein Schlafplatz zur Verfügung gestellt wurde. Infolge der Kämpfe verlor sie auch ihren Arbeitsplatz und geriet an den Rand der Gesellschaft der zerstörten Ostukraine.

»Ich mochte meine Arbeit in der Brotfabrik der Stadt, aber ich wurde gefeuert. Die Fabrik brauchte nicht mehr so viele Angestellte. Sie hat viel nach Donezk und Russland gelieferte, doch die Handelsbeziehungen wurden wegen des Krieges abgebrochen«, erklärt Jelena.

Als sie während der schlimmsten Zeit des Krieges aus Slowjansk floh, war sie besorgt, dass jemand in die Wohnung einbrechen könne. »Aber dann hätte es mindestens noch Wände gegeben, in die ich hätte zurückkehren können«, sagt Jelena und geht in eine Ecke der abgebrannten Ruine. Vorsichtig geht sie über zerschmetterte Backsteine und knirschende Mörtelstücke. »Hier sind meine beiden Fenster«, sagt sie leise. Die Rahmen fehlen. Nur zwei klaffende Löcher sind übrig geblieben. »Gott sei Dank war ich nicht hier, als die Bombe einschlug. Hätte ich mein Haus brennen sehen, wäre ich wohl verrückt geworden.«

Tränen rinnen aus ihren Augen und über das Kinn, werden zu kleinen, dunklen Flecken auf der wattierten Jacke. Jelena Gretschuchowa und ihre Nachbarn haben vor dem Krieg im Donbass viel Zeit und Mühe in ihre Wohnungen investiert, eine Menge Arbeit und Geld. »Wir haben es eingerichtet und repariert, Fenster und Türen ersetzt. Wir haben dem Haus unsere ganze Seele gegeben. Nun habe ich alle Hoffnung verloren, jemals wieder einziehen zu können.«

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