Totenruhe ist vorgeschoben

Nicolas Šustr kann die Aufregung ums Festival nicht nachvollziehen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 2 Min.

Mindestens 70 000 Menschen strömten 1987 in den Treptower Park, in unmittelbare Nachbarschaft des Sowjetischen Ehrenmals, um Bob Dylan auf der Bühne stehen zu sehen. Das Konzert war eine kleine Sensation in der DDR. In den von der Stasi-Unterlagenbehörde veröffentlichten Dokumenten findet sich jedoch kein Hinweis darauf, dass besondere Schutzmaßnahmen für das Ehrenmal zu ergreifen gewesen wären. Die sowjetischen Freunde hätten trotz aller damals bereits gelockerten Zügel niemals eine Riesenveranstaltung zugelassen, wenn sie die Befürchtung gehabt hätten, die Totenruhe könne gestört werden.

Im Jahre 2016 liegen die Dinge anders. Zehn Botschafter ehemaliger Sowjetrepubliken schreiben einen Brief an Innensenator, Regierenden und Bezirksbürgermeister, in dem sie bitten, für das für 45 000 Besucher ausgelegte Lollapalooza-Festival einen aus ihrer Sicht geeigneteren Standort zu finden. Das Schreiben nicht unterzeichnet haben übrigens die Ukraine, Georgien und die baltischen Staaten. Das deutet schon mal darauf hin, dass eher die neue Konfrontation zwischen Ost und West Vater der öffentlich gezeigten Besorgnis ist.

Es gibt viele Gründe, die gegen das zweitägige Kommerzfestival sprechen. Störung der Totenruhe, weil in der Nachbarschaft eines Friedhofs Leute Spaß haben, ist aber in einer Großstadt eher vorgeschoben. Übrigens waren besorgte Briefe ehemaliger Sowjetrepubliken wegen Großveranstaltungen im Tiergarten - Fanmeile oder Christopher Street Day - unbekannt. Obwohl dort ebenfalls ein Ehrenmal steht.

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