Wo eigentlich liegt Schengen?

Alle reden darüber, doch viele wissen nicht, wo es ist. Ein Besuch in Luxemburg. Von Heidi Diehl

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenigstens hat er nicht gefragt, wie Schengen mit Vornamen heißt. Auch so etwas soll schon vorgekommen sein. Doch wo genau Schengen liegt, wusste ein guter Freund kürzlich nicht zu sagen. »Tja, entweder in den Niederlanden oder in Österreich«, mutmaßte er nach längerem Nachdenken.

Nun ja, knapp daneben, aber zum Trost sei ihm gesagt, dass er sich in seiner geografischen Unwissenheit in prominenter Gesellschaft befindet. So hat nämlich der ehemalige französische Staatspräsident François Mitterrand einst Schengen als ein »charmantes Dörfchen in den Niederlanden« verortet. Was ihn postwendend einen Brief erboster Schengener einbrachte, die ihn darüber aufklärten, dass sich ihr Ort nicht im Land der Tulpen, sondern an der Mosel, dem luxemburgisch-deutschen Grenzfluss befindet.

Um ganz genau zu sein: Schengen ist ein rund 550 Einwohner zählendes luxemburgisches Winzerdorf im Dreiländereck Deutschland, Frankreich und Luxemburg. Dass die Gemeinde heute als das berühmteste Dorf der Welt gilt, verdankt sie eher einem Zufall. Denn hätte 1985 nicht Luxemburg, sondern irgendein anderes Mitgliedsland der EU die Ratspräsidentschaft innegehabt, wäre Schengen noch immer ein Dörfchen wie viele an der 42 Kilometer langen luxemburgischen Weinstraße: hübsch anzusehen, ein wenig verschlafen und eine gute Adresse für Weinliebhaber.

So aber erhielt im Frühsommer 1985 Bürgermeister Fernand Weber einen überraschenden Anruf vom Staatssekretär im luxemburgischen Außenministerium, Robert Goebbels. Er suche einen neutralen wie auch symbolträchtigen Ort für die Unterzeichnung eines wichtigen internationalen Vertrags und habe dabei an Schengen gedacht, teilte er dem Ortsvorsteher mit. Doch so sehr der auch überlegte: Außer dem Schloss, dem Victor Hugo, der 1871 hier zur Kur weilte, durch eine Zeichnung zu einiger Berühmtheit verhalf, gab es hier nichts Bedeutendes. Und selbst das kam aus verschiedenen Gründen nicht infrage. Letztlich reifte die Idee, die Vertragsunterzeichnung auf dem Ausflugsschiff »Princesse Marie-Astrid« durchzuführen - dort, wo Luxemburg, Deutschland und Frankreich aneinanderstoßen, was ja schon von einiger Symbolkraft ist. Und neutral ist ein Schiff allemal. So kam es, dass am 14. Juni 1985 je ein Vertreter der Benelux-Staaten (Belgien, Niederlande und Luxemburg), sowie aus Deutschland und Frankreich auf schwankenden Planken ihre Unterschrift unter ein Abkommen setzte, das den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen und die Einführung des freien Personen- und Warenverkehrs vorsah - heute wird es als »Schengen I« bezeichnet. Als Robert Goebbels nach der Unterzeichnung in die kleine Runde sprach: »Was wir hier tun, geht vielleicht mal in die Weltgeschichte ein«, reagierten seine Kollegen mit ungläubigem Gelächter. So richtig schien sich damals keiner der Anwesenden darüber im Klaren gewesen zu sein, dass sie an jenem kühlen Freitag Geschichte schrieben. »Nicht mal ich«, sagte Goebbels später. Das merke man schon daran, dass das Ganze irgendwie unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, erinnert er sich. Nur wenige Fotografen seien dabei gewesen und ein einziger regionaler TV-Sender. Als fünf Jahre später wieder in Schengen die Vereinbarung zur praktischen Umsetzung der politischen Vereinbarungen - Schengen II - unterzeichnet wurde, war die mediale Aufmerksamkeit erheblich größer. Richtig in Kraft getreten allerdings ist das Abkommen erst am 26. März 1995. Bis heute haben es 26 Länder unterzeichnet.

In den vergangenen 31 Jahren hat sich das Dörfchen verändert. Nein, größer geworden ist es nicht, und die Bewohner gehen noch immer ihrem gewohnten Leben nach. Doch unter sich sind sie schon lange nicht mehr: Allein im vergangenen Jahr kamen 40 000 Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus, um den Ort zu sehen, in dem der Grundstein dafür gelegt wurde, dass Grenzzäune verschwanden und viele Menschen begannen, sich als Europäer zu fühlen. Wenngleich sich in den letzten beiden Jahren das Bild geändert hat, neue Zäune in Europa gesetzt wurden und werden und sich viele fragen, ob Schengen nur eine schöne, kurzzeitige Episode und langfristig eine Illusion war.

Eine Antwort darauf finden sie im 2010 eröffneten Europäischen Museum am Ufer der Mosel zwar nicht, wohl aber einen guten Überblick über die Geburtsstunde und Ausweitung des Schengenraums. Kernstück des 200 Quadratmeter kleinen Museums ist eine interaktive Kartenanimation mit Informationen zur Geschichte der Grenzveränderungen der einzelnen Schengenstaaten sowie anderer europäischer Länder, die dem Schengenraum noch nicht beigetreten sind. Manches wirkt angesichts der gegenwärtigen bedrückenden Nachrichten über neue Grenzzäune gegen die Flüchtlingsströme, wie eine wehmütige Erinnerung an eine längst vergangene Hoffnung. Und das ausgestellte Originaldokument von 1985 erscheint wie eine Mahnung, nicht leichtsinnig kaputtzumachen, worauf Europa seit gut zwei Jahrzehnten stolz sein konnte - die grenzenlose Freiheit.

Den Platz vor dem Museum dominieren drei Nationensäulen, die, wie auch das Museum, von dem einheimischen Architekten François Valentiny konzipiert wurden. Für jedes der 26 Unterzeichnerländer steht ein Stern, den »Markenzeichen« des jeweiligen Landes zieren. Bei deren Auswahl ist Valentiny durchaus mit einem Augenzwinkern an die Gestaltung gegangen, denn neben dem Brandenburger Tor ziert den deutschen Stern beispielsweise auch ein witziger Gartenzwerg. Ein paar Meter entfernt stehen zwei 3,60 Meter hohe Originalteile der Berliner Mauer - als weltweit bekanntes Symbol für die Öffnung und den Wegfall der Grenzen in Europa. Und wie zur Bekräftigung gleich daneben ein von der Goi Peace Foundation gestifteter Friedenspfahl, auf dem in zwölf Sprachen zu lesen ist: »Möge Frieden auf Erden sein«. An den historischen Akt der Unterzeichnung des Schengenabkommens erinnern drei Stahlstelen am Moselufer mit jeweils einem goldenen Stern. Neun weitere Sterne sind in den Boden vor dem Denkmal eingelassen - alle zwölf zusammen symbolisieren die Europaflagge, die auf blauem Grund ebenfalls zwölf Sterne zieren. Übrigens stehen diese nicht für die Mitgliedsstaaten - da gibt es bekannterweise viel mehr - sondern für den Zusammenhalt und die Zusammengehörigkeit von Staaten und Völkern, für Harmonie und Solidarität. Denn in vielen Überlieferungen gilt die Zahl zwölf als Symbol für Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit: die zwölf Apostel in der Bibel, zwölf Tages- und zwölf Nachtstunden machen einen Tag, zwölf Monate ein Jahr.

Man kann nur hoffen, dass sich alle Länder Europas bald auf den »heiligen Schwur« besinnen, den sie sich in Schengen gaben. Darauf könnte man ja mit einem Gläschen »Spirit of Schengen«, einem herrlich prickelnden Crémant des Schengener Weinguts Vinsmoselle anstoßen. Und dazu laut in die Welt rufen: Lasst den Geist von Schengen aus der Flasche! Die Luxemburger leben es Europa übrigens vor: 46 Prozent der 563 000 Einwohner des Landes sind Ausländer. Sie alle leben friedlich miteinander.

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