Mit Nuit debout gegen das Hamsterrad
Frankreichs junge Bewegung leistet Widerstand gegen das Arbeitsgesetz - doch es geht um mehr
Maintenant quand nous sommes ensemble...
»Jetzt, wo wir zusammen sind, geht es schon besser«, steht in weißen Lettern auf dem Place de la République. Was auffällt, ist eine ungeheure Sehnsucht nach Nähe, nach Augen- und Körperkontakt, Masse, Enge, Wärme. Natürlich, die Kommunikation läuft viel virtuell, über Telegram, über Facebook und Twitter. Nuit debout organisiert sich in virtuellen Gruppen und Kanälen, wie vor ihr die Indignados, der arabische Frühling, der Syntagma in Athen. Doch diese Vernetzung bleibt unbefriedigend im Kampf gegen Vereinzelung. Die Menschen suchen in den Augen der Anderen die Bestätigung des Kollektivs, des Rechts auf ihren Kampf, sehen in der Masse die Aufhebung der Spaltung, des Leistungsdrucks, der Konkurrenz. Im geistgetrieben Kapitalismus ist der Widerstand körperlich.
Prenez place!
Nuit debout ist sechs Wochen alt. Die Entschlossenheit der Bewegung ist ungebrochen. Sie ist sich darüber bewusst, dass sie einen langem Atem braucht. Vielleicht sucht sie daher nicht den Konflikt, besetzt den Platz nicht mit dem linken Pathos des Widerstands gegen die Staatsgewalt. »Setzt euch hin, nehmt euch den Platz! Wofür haben wir ihn uns sonst genommen«, ermahnt eine Frau. Jeden Morgen wird er jedoch widerstandslos geräumt und von der Stadt gereinigt. Ohne Zögern öffnen die Platzbesucher jeden Abend ihre Taschen an den von etlichen Polizisten kontrollierten Eingängen. Nein, es wird nicht der Konflikt gesucht. Es wird Ruhe gebraucht und Zeit, ein bisschen Luft, um nachhaltige Handlungsstrategien auszuarbeiten.
Assemblée génerale
Die Versammlung auf dem Platz ist das körpergewordene Netzwerk, die Verdichtung. Wie ein Hashtag, der Diskussionen bündelt, sind die Kommissionen aufgeteilt in verschiedene thematische Stränge. Wie stoppen wir die Rekolonialisierung Afrikas? Wie organisieren wir uns als Feministinnen auf dem Platz? Wie streiken wir Prekären, die wir nicht in Gewerkschaften organisiert sind? Die Ergebnisse werden abends auf der gemeinsamen Versammlung präsentiert, gebündelt. Gleichzeitig sind die Versammlungen der verschiedenen Städte in Kontakt, ein eigener Sender berichtet über alle Kämpfe. Bei Radio Debout können alle mitmachen, kommuniziert wird über den verschlüsselten Internet-Gesprächsdienst Mumble. Mit einem Klick ist Nuit Debout Berlin live on air zugeschaltet.
Convergence des Luttes
Dem Wunsch nach einem Miteinander entspricht der Wunsch, die verschiedenen Kämpfe nicht nur untereinander zu vernetzen, sondern wirklich zusammen zu führen, zu konvergieren: die Kämpfe der Studierenden, der gewerkschaftlich Organisierten, der prekär Selbständigen, der Arbeitslosen. Auf dem Platz besteht die große Mehrheit jedoch aus jungen, intellektuellen Studierenden. Die Gewerkschaften führen ihren Kampf gegen den sozialen Angriff auf ihre Art. Einige Gewerkschafter schauen auf dem Platz vorbei, einige Aktivisten bemühen sich morgens um Aktionen vor den Werktoren oder sonntags in Einkaufszentren gegen die Sonntagsarbeit. Eine reelle Convergence jedoch bleibt vorerst aus.
À gauche? Debout!
In der postpolitischen Tradition der Indignados spielen linke Fahnen und Organisationen auf dem Platz keine Rolle. Die Beiträge in den Versammlungen spielen sich jedoch auf höchstem politischen Niveau ab. Die hochgebildete studentische Linke trägt die Organisation des Platzes. Da spricht Oreste Scalzone, ein militanter italienischer Marxist, vom Widerstand gegen die Algorithmen der Wirtschaft. Tosender Applaus. Die Ausbeutung Afrikas und die Kriege Frankreichs werden diskutiert, die internationale Solidarität, alte Linke Slogans stehen neben neuen Forderungen wie dem Bedürfnis zu leben, zu träumen, zu sein. Nuit Debout ist durch seinen sozialen Kampf im traditionellen Sinne politischer als occupy. Die radikale Ablehnung des alten Systems entwickelt sich gleichzeitig fort: »Weder kapitalistisch, noch antikapitalistisch: Bürger« steht auf einem Schild. Es ist der Wunsch, sich dem Sachzwang, der Alternativlosigkeit, den alten Diskussionen zu entfliehen.
Même pas peur.
Das Recht zu träumen müssen sich die Pariser*innen hart erkämpfen. Die République wurde angegriffen, im Januar und noch einmal im November 2015. »Wir haben aber keine Angst!«, steht trotzig am Sockel der Marianne, ätsch. Nur wenige Meter von dem Gedenken an die Opfer der Anschläge, von den Trauerkerzen, Blumen und Fotos entfernt nehmen Tausende Pariser jeden Abend inmitten des Ausnahmezustands ihren Kampf in die Hand, verkriechen sich nicht in den Wohnungen, verstecken sich nicht vor dem patroullierenden Militär, sondern setzen sich ins Zentrum der Republik, laut, fordernd, selbstbewusst. Und bewusst auch über die Herkunft der Bedrohung. Nicht gegen den IS wird sich gewehrt, kein Feindbild Islam aufgebaut, der Feind ist die bestehende Welt, das Hamsterrad, die traurige, atemberaubende, brutale Welt der Arbeit, der Prekarisierung, der Konkurrenz, der Klimazerstörung, des blinden Losstürmens auf den Abgrund. Die Aufgewachten reiben sich die Augen und sehen all das mit großem Erstaunen. Ohne Angst. Aber mit einem Entschluss: so nicht weiter. Wenn man sie nicht träumen lässt, lassen sie die Welt nicht länger schlafen.
Rêve Géneral
Unmittelbarer Auslöser der Bewegung ist die Empörung über das geplante Arbeitsgesetz, das Loi Travail. Doch Nuit Debout ist kein Abwehrkampf. »Gegen das Arbeitsgesetz – und gegen die Welt, die es hervorgebracht hat!« ist der Slogan. Wofür den ganzen Tag arbeiten, wenn damit das Klima zerstört wird? Wenn dafür andere ihre Miete nicht zahlen können? Nase voll von der Sinnlosigkeit, der Utopienlosigkeit. Die Jugend hat das Hamsterrad satt. Sie kämpft für das Recht, zu träumen. Nicht individuell, nicht nachts allein im Bett. Sondern kollektiv auf dem Platz, wach, aufrecht, debout. Für einen gemeinsamen Traum.
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