»Hau ab, Temer«: Proteste in Brasilien
Tausende gehen gegen Interimspräsident auf die Straße / Temer will sich 2018 nicht zur Wahl stellen - um jetzt unpopuläre Entscheidungen zu treffen
Berlin. Mit sogenannten Panelaços haben zahlreiche Menschen in Brasilien gegen den Übergangspräsidenten Michel Temer protestiert. In mehreren Großstädten schlugen sie am Sonntagabend auf Töpfe ein und skandierten »Hau ab, Temer«, während der neue Staatschef ein Fernsehinterview gab. Temer kündigte im Sender TV Globo an, sich 2018 nicht zur Wahl zu stellen. Das ermögliche ihm, auch »unpopuläre« Entscheidungen zu treffen.
Zuvor hatte die brasilianische Übergangsregierung wie erwartet einen harten Kurs der Kürzungen, Entlassungen und Privatisierungen angekündigt - nach der von der linken Arbeiterpartei PT als Putsch kritisierten vorläufigen Amtsenthebung der brasilianischen Staatschefin Dilma Rousseff. »Als erste Maßnahme werden die öffentlichen Ausgaben einer rigiden Kontrolle unterworfen«, erklärte Finanzminister Henrique Meirelles nach der ersten Kabinettssitzung. Die öffentlichen Ausgaben müssten verringert werden, sagte der 70-jährige. Sozialprogramme für die Bedürftigsten will Meirelles jedoch beibehalten. Es gehe dabei um Programme mit einem »geringen Anteil am Haushalt«, fügte er auf einer Pressekonferenz in Brasília hinzu.
Genaueres über die geplanten Maßnahmen bei der Arbeitsgesetzgebung, den Renten und dem Abbau der Staatsschulden könne er am ersten Tag der neuen Regierung noch nicht mitteilen. Erst müssten ihm alle Zahlen vorliegen. Klar scheint aber schon zu sein, dass Subventionen in allen Bereichen gestrichen werden sollen, wie die Zeitung »O Globo« in ihrer Onlineausgabe berichtete. Zudem kündigte der neue Finanzminister eine umstrittene Reform des Rentensystems an. Erstmals soll ein Mindestalter für den Rentenbezug eingeführt werden. Auch vorübergehende Steuererhöhungen zur Haushaltssanierung schloss Meirelles nicht aus. Planungsminister Romero Jucá kündigte an, knapp ein Fünftel der über 20.000 Posten politischer Vertrauensleute im Regierungsapparat zu streichen. Nach Worten des neuen Verkehrsministers Maurício Quintella soll in der Infrastruktur und im Transportbereich »so viel wie möglich« privatisiert werden.
Brasilien steckt seit weit über einem Jahr in einer schweren Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit, einer Inflationsrate von rund zehn Prozent und einem riesigen Haushaltsdefizit. Die Mitte-Links-Regierung der bisherigen Präsidentin Rousseff, die am Donnerstag vom Senat für 180 Tage suspendiert wurde, war wegen der Krise und spektakulärer Korruptionsermittlungen unter Druck geraten. Doch auch das Lager der neuen Regierung ist in das umfangreiche System von Klientelismus und Korruption verstrickt.
Temer betonte in seiner Antrittsrede, seine Regierung werde die Ermittlungen im weit verzweigten Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras nach Kräften unterstützen. Kritiker befürchten jedoch, dass Temer, dessen Partei PMDB tief in die Korruptionsaffäre verwickelt ist, die Ermittlungen nach der Machtübernahme eher behindern als fördern wird. Gegen mehrere seiner neuen Minister wird im Zusammenhang mit dem Korruptionsfall ermittelt.
Temer stieß seine Kritiker schon mit der Ernennung seiner Regierungsmannschaft vor den Kopf: Die 24-Kabinettsmitglieder sind ausschließlich weiße Männer. In Rousseffs Regierung waren mehrere Frauen und schwarze Politiker vertreten. Rousseff selbst, die ehemalige Guerillakämpferin gegen die Militärdiktatur, rief ihre Landsleute auf, gegen den »Putsch« der Opposition weiter mobil zu machen und die Demokratie zu verteidigen. Sie bezeichnete ihren Nachfolger als »Verräter«.
Nach der Suspendierung von Rousseff hat auch die linke Regierung in El Salvador den Machtwechsel in Lateinamerikas größter Volkswirtschaft scharf kritisiert. Die vorläufige Absetzung der Präsidentin gleiche einem Staatsstreich, hieß es am Samstag in einer Stellungnahme des Präsidialamts. »Deshalb erkennt die Regierung von El Salvador die so genannte Übergangsregierung in Brasilien nicht an.« Zuvor hatten bereits Venezuela, Kuba, Bolivien, Ecuador und Nicaragua die Suspendierung Rousseffs verurteilt.
Brasiliens neuer Außenminister José Serra reagierte mit scharfen Worten auf die Kritik von Regierungen in Süd- und Mittelamerika. Das Ministerium verwahre sich dagegen, hieß es in einer Mitteilung vom Freitagabend. Man verbitte sich »die Verbreitung von Unwahrheiten über den internen politischen Prozess in Brasilien«. Die jüngste Entwicklung sei in Einklang mit der Verfassung erfolgt.
Derweil hat die Enthüllungsplattform Wikileaks erneut Dokumente über Brasiliens Interimspräsidenten Temer veröffentlicht, wonach er ein Informant der USA gewesen ist. Die Berichte an den US-Diplomaten Christopher J. McMullen waren 2011 schon einmal veröffentlicht worden. Daraus geht hervor, dass er als damaliger Abgeordneter 2006 die US-Botschaft über das Innenleben der brasilianischen Politik informiert habe und sich kritisch über Präsident Luiz Inácio Lula da Silva äußerte. So kritisierte Temer laut der Depeschen Lulas starke Konzentration auf Sozialprogramme.
Zudem erörterte er die Möglichkeit, dass seine Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) bei der nächsten Präsidentschaftswahl einen eigenen Kandidaten aufstellt. Er bestritt schon 2011, dem damaligen Generalkonsul in São Paulo, McMullen, direkt berichtet zu haben und sagte, dass dieser die Angaben aus Interviews entnommen haben könnte - in den Telegrammen ist aber von direkten Treffen die Rede. Wikileaks wies am Freitag via Twitter erneut auf die Dokumente hin. Agenturen/nd
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