Rassenwahn, der sich verzettelt
Eine Schau zur »Vermessung des Unmenschen« im Dresdner Lipsiusbau will heutigem Rassismus rational entgegentreten
Rassismus - das sind nicht nur Affenlaute, die durch ein Stadion gellen, wenn ein dunkelhäutiger Spieler einen Pass spielt. Er kann sich, wie eine neue Ausstellung in Dresden über die »Ästhetik des Rassismus« zeigt, auch in Diagrammen auf Millimeterpapier manifestieren; in endlosen Kolonnen winziger Zahlen; in Graphen, die sich gleich Fieberkurven über Papier ziehen. Sie basieren auf Millionen von Messdaten, die erhoben, verglichen und analysiert wurden mit einem einzigen Ziel: einem vermeintlich natürlichen Unterschied auf die Spur zu kommen zwischen »uns« und »denen«, Weißen, Afrikanern, Asiaten - kurz: zwischen Mensch und »Unmensch«.
Bernhard Struck, der Schöpfer der Diagramme und Tabellen, war sicher kein Mann der obszönen Geste. Der Ethnologe, der 1913 in das Dresdner Museum für Völkerkunde kam, es zeitweise auch leitete und später auf einen Lehrstuhl für Rassentheorie in Jena wechselte, sah sich als Vertreter der reinen Wissenschaft. Zehn Jahre schrieb er an einer Doktorarbeit über den »Kopfindex des mittleren Afrika«; sein Ziel war eine Karte dazu, wie unterschiedlich Intelligenz auf dem Kontinent verteilt ist. Er berechnete statistische Verteilungen und suchte nach Gesetzmäßigkeiten, um Typen, Völker, Rassen erkennen und sie hierarchisch bewerten zu können.
Der Nachlass von Struck bildet den Kern der Ausstellung, die im Lipsiusbau zu sehen ist und den Titel »Die Vermessung des Unmenschen« trägt. Es ist eine Schau, die überschattet ist von einer von vielen nicht für möglich gehaltenen Wiederauferstehung rassistischer Theorien, die erneut Straßen erobern und politischen Einfluss bis in europäische Regierungszentralen erlangen - eines Rassismus, der deutsche Politiker dazu bringt, die Flüchtlingskrise in Relation zu setzen zum Fortpflanzungsverhalten »der« Afrikaner oder der uralte Ängste schürt über triebgesteuerte Fremde, die in Köln und anderswo »unsere« Frauen rauben.
Derlei rassistische Stereotype treffen - zum Glück; noch - auf Gegenwehr. Die äußert sich indes meist in Gestalt moralischer Empörung, sagt Wolfgang Scheppe, der die Dresdner Schau kuratiert hat. Der Münchner Philosoph vertritt freilich die Auffassung, dass Rassismus nicht in Kategorien von gut oder böse zu begegnen sei, sondern von richtig und falsch - dass er also als Versuch einer wissenschaftlichen Welterklärung ernst genommen werden müsse, zugleich aber zu belegen sei, dass dieser Versuch zum Scheitern verdammt ist. Der Nachlass von Struck, ein schier unüberschaubares Konvolut Tausender Fotografien, von Schachteln, Kartons und Kisten, von Skizzen und Schautafeln ist dafür bestens geeignet.
Bevor Scheppe den Besucher freilich mit diesen zu gröblichstem Missbrauch geradezu einladenden Zeugnissen eines besessenen Forschergeistes konfrontiert, erinnert er an die Ursprünge rassistischen Denkens. In der Eingangshalle des Ausstellungsbaus platziert er dazu eine geradezu monströse Plastik des französischen Bildhauers Emmanuel Frêmiet, der im Jahr 1887 den Raub einer nackten Weißen durch einen Affen darstellte - ein sexuell aufgeladenes Sujet, das in seiner Entstehungszeit für ähnliche Empörung sorgte wie die Vorfälle aus der Kölner Silvesternacht.
Die Schönheit und der Affe waren schon Extrempunkte einer Linie, die der Niederländer Petrus Camper im 18. Jahrhundert zog. Der Universalgelehrte beschäftigte sich mit der Vermessung von Schädeln, genauer: des Winkels zwischen den äußersten Punkten von Stirn und Unterkiefer. Als ideal proportioniert sah ihn Camper beim Apollo von Belvedere. Bei Afrikanern und Asiaten war er spitzer - und damit angeblich weniger ästhetisch - als bei Europäern; er erreichte schließlich das Extrem bei Affen. Es war, sagt Scheppe, eine »verhängnisvolle Reihe«, die Camper entwarf - auch wenn es ihm um Ästhetik ging und noch nicht um Wertung.
Dieses Element folgte erst im späten 18. und im 19. Jahrhundert. Scheppe nennt zwei Auslöser. Zum einen habe die bürgerliche Gesellschaft mit dem zentralen Motto der Französischen Revolution die Gleichheit aller Menschen postuliert, die faktisch aber nicht bestand, wie auf den Plantagen der Kolonien und der amerikanischen Südstaaten sichtbar war. »Man benötigte Erklärungen, warum man Wesen mit Kopf und zwei Beinen Bürgerrechte verwehren durfte«, sagt Scheppe. Was lag näher, als den Sklaven das Menschsein abzusprechen, sie also zu »Un-Menschen« zu erklären? Diese Sichtweise wurde mit dem Aufkommen der Nationalstaaten auch auf die zu Feinden erklärten Bewohner anderer Nationen erweitert. Der Affe in Frêmiets Plastik, merkt Scheppe an, trug in einigen Versionen auch die Kappe eines deutschen Soldaten.
An Versuchen, die angebliche Höherwertigkeit der einen und eine vermeintliche Tierhaftigkeit der anderen auch wissenschaftlich zu beweisen, mangelte es nicht, und oft setzte man dabei auch auf äußere, sichtbare Unterscheidungsmerkmale: Formen von Nase und Stirn oder die Farbe der Haut. Die Ausstellung zeigt einen sogenannten Tasterzirkel, mit dem Schädel vermessen wurden; einen Satz »rassekundlicher Bestimmungstafeln«, die eine Typologisierung nach Iris-, Haar- oder Hautfarbe erlauben sollten, oder einen hölzernen Kreisel, der freilich nicht als Kinderspielzeug genutzt wurde, sondern dazu dienen sollte, den prozentualen Anteil dunkler Pigmente in der Haut bestimmen zu können.
Die Ergebnisse der »Forschungen« waren oft irrwitzig; »Rasseköpfe«, wie man sie anhand angeblich typischer Merkmale zu konstruieren versuchte, gerieten stets zur Karikatur, wie ein »Judenkopf« aus dem »Reichsinstitut für Puppenspiel« in der Ausstellung vor Augen führt. Andere erwiesen sich als haltlos; von den Abmessungen des Schädels, die über Jahrzehnte als Indiz für Intelligenz galten, weiß man inzwischen, dass sie bei Babys von allen möglichen Faktoren beeinflusst werden, nur nicht von den Genen.
Bei Verfechtern von Rassentheorien führte das freilich nur zu um so verbohrteren Bemühungen. Ein Extremfall ist ohne Zweifel Struck. Teile aus dessen Fotosammlung bedecken neun riesige Tische im zentralen Saal der Schau - Zeugen einer verstörenden Obsession, die in ihrem Umfang auch ermüden. Struck sei, merkt Kurator Scheppe an, dem Rassenwahn der Nazis besonders dienlich gewesen, weil er selbst gar kein engagierter Nazi war, sondern sich als Vertreter der »reinen Wissenschaft« sah. Sein Rassismus lag, heißt es in einer Publikation zur Schau, »nicht in menschenverachtendem Zynismus und verabscheuungswürdiger Bösartigkeit«; er sei vielmehr »als theoretischer Fehler« zustande gekommen. Allerdings erwächst daraus auch die Hoffnung, Rassentheorien anders als durch moralische Empörung entgegentreten zu können. Die von Strucks Fachkollegen Eugen Fischer geäußerte Hoffnung nämlich, dass für die Verschiedenartigkeit der Typen, Völker, Rassen »vielleicht der wirkliche ziffermäßige Nachweis in dem Material schlummere« - er gelang trotz aller Mühe auch dem manischen Forscher Struck nicht. Beweise für seine Rassentheorie musste er schuldig bleiben. Am Ende heißt es auf einer Schrifttafel in der Schau lakonisch: »Struck hat sich verzettelt.«
Lipsiusbau Dresden, bis 7. August.
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