1300 geflüchtete Kinder warten auf Schulbesuch
Bildungsstaatssekretär Rackles sieht aktuell viele Probleme für junge Asylsuchende
Eigentlich wollten die Anwesenden über neue Ausbildungsinhalte für Lehrer diskutieren, die diese besser für ihre Arbeit in Willkommensklassen qualifizieren würde. Doch schon beim Auftakt der Tagung »Bildung für geflüchtete Kinder und Jugendliche« der Friedrich-Ebert-Stiftung am Donnerstag wurde klar, dass die Probleme beginnen, bevor die Kinder überhaupt ein Klassenzimmer betreten.
So sagte der Staatssekretär für Bildung, Mark Rackles (SPD), ein Problem sei bereits die Erfassung von schulpflichtigen Geflüchteten. Statt sich beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) anzustellen, werden Kinder und Jugendliche nun von Mitarbeitern in den Notunterkünften aufgesucht und angemeldet.
Nicht nur sind Schulplätze knapp, auch müssen sich alle Kinder vor dem Schulbesuch ärztlich untersuchen lassen. In Lichtenberg, so berichtete Rackles, warten derzeit 200 Kinder darauf, zur Schule gehen zu können. Einen Schulplatz haben sie. Erst habe das Gesundheitsamt gesagt: »›Keine Untersuchung ohne Schulplatz‹, jetzt sagen sie: ›Untersuchungen sind erst im Juni oder Juli möglich.‹ Da weiß manchmal die linke Hand nicht, was die rechte tut.«
Insgesamt warten laut Rackles noch 1300 Kinder darauf, eine Willkommensklasse besuchen zu dürfen. Es handle sich dabei um unbegleitete Geflüchtete, die im Januar und Februar gekommen seien. 2000 Kinder seien jüngst auf Bitten des Senats an einem Wochenende von der Charité untersucht worden. Sie konnten inzwischen in Berufsschulen untergebracht werden. »Ob das der Weisheit letzter Schluss ist, dass Berufsschullehrer jetzt Sprachkurse anbieten, fragt man sich schon«, sagte Rackles.
Seit 2015 sind 22 000 geflüchtete Kinder ins Schulsystem aufgenommen worden. Die Hälfte sind laut Staatssekretär bereits in Regelklassen, 11 000 besuchen Willkommensklassen. Hier lernen sie vor allem Deutsch, viele müssen zudem alphabetisiert werden.
Die Lehrerausbildung war 2014 mit dem Lehrkräftebildungsgesetz modernisiert worden, Sprachbildung und Inklusion sind nun Teil der Ausbildung. »An sich sind wir gut aufgestellt, aber die Ressourcen fehlen. Die Flüchtlingsfrage verstärkt den Zeitdruck«, so Rackles. Auch alteingesessene Lehrer müssten sich umstellen: »Es sitzen ihnen keine 20 blonden Kinder mehr gegenüber, die Hans und Christine heißen.« Er möchte deshalb auch geflüchtete Lehrer schneller einstellen: 500 bis 1000 »Flüchtlings-Lehrkräfte« in den Klassen sei das Ziel.
Der Übergang von Willkommensklasse ins Regelsystem scheint ein weiteres Problem. Im Februar schrieb die Bildungsverwaltung im »Leitfaden für Integration«, Ziel solle sein, »dass 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht länger als sechs Monate, 90 Prozent nicht länger als ein Jahr in einer Willkommensklasse verbleibe.«
Anne Muras, Lehrerin einer Willkommensklasse an der Friedrich-Ebert-Oberschule in Wilmersdorf, findet das problematisch: »Kinder, die im Latein nicht alphabetisiert sind, kann man nicht nach sechs Monaten entlassen.« Schließlich sind viele Jugendlichen nicht nur dem lateinischen Alphabet nicht mächtig, sondern zudem traumatisiert: »Ich hatte ein Mädchen, das acht Wochen überhaupt nicht gesprochen hat.« Wegen fehlender Schulplätze seien aus zwei Willkommensklassen erst vier Schüler in das Gymnasium übernommen worden und das auch nur wegen »persönlicher Beziehungen« zu den Klassenlehrern. Auch von der täglichen Überlastung spricht sie: So beantworte sie nachmittags auf Facebook die vielen Fragen ihrer Schüler. Muras fordert ein »multiprofessionelles Team« in Willkommensklassen, das sich aus Pädagogen, Psychologen und organisatorischem Personal zusammensetze.
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